Präsident Selenski sagt, sein Land werde sich nicht in einen Kompromiss zwingen lassen. Derweil weitet die Ukraine ihre Drohnenangriffe gegen russische Energieanlagen aus. Beim Atomkraftwerk Kursk kommt es zu einem Brand.
Kinder spielen am Nationalfeiertag auf der berühmten Potemkinschen Treppe in Odessa unter einer riesigen ukrainischen Flagge.
Onyshchenko / Imago
Die Ukraine hat über das Wochenende ihre Schläge gegen die russische Energieinfrastruktur fortgeführt. In der Nacht auf Sonntag griffen ukrainische Drohnen den russischen Ostseehafen von Ust-Luga nahe der estnischen Grenze an, worauf dort bei einer Verarbeitungsanlage für Erdgas ein Grossbrand ausbrach.
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Die getroffene Anlage gehört der Firma Nowatek, der grössten privaten Energiefirma in Russland. Das Unternehmen mit Tochtergesellschaften in der Schweiz verarbeitet in Ust-Luga unter anderem flüssiges Gaskondensat für den Export zu Treibstoff. Der ukrainische Generalstab erklärte am Sonntag, der Geheimdienst SBU stehe hinter dem Angriff.
Brand beim Atomkraftwerk Kursk
Ebenfalls von ukrainischen Drohnen getroffen wurde am Sonntag die Erdölraffinerie in der Stadt Sysran an der Wolga. Damit hat die Ukraine seit Beginn des Monats zehn Grossanlagen des russischen Energiesektors angegriffen. Ein Brand in der Raffinerie von Nowoschachtinsk in der Oblast Rostow etwa, die am Donnerstag getroffen worden war, konnte bis Sonntag nicht gelöscht werden.
Die Trümmer einer abgeschossenen Drohne lösten zudem beim russischen Atomkraftwerk Kursk einen Brand aus. Laut der Betreibergesellschaft wurde ein Transformator beschädigt. In der Folge wurde die Kapazität eines Reaktorblocks um 50 Prozent heruntergefahren. Zurzeit sind drei der vier Blocks in Betrieb, bei einem vierten finden Wartungsarbeiten statt.
Die Strahlungsbelastung habe sich durch den Vorfall nicht verändert, hiess es weiter. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) betonte in einer Stellungnahme die Bedeutung des Schutzes aller nuklearen Anlagen. Die Ukraine wies russische Vorwürfe, das Kraftwerk sei gezielt angegriffen worden, als haltlos zurück.
Herabstürzende Trümmer einer ukrainischen Drohne haben beim Atomkraftwerk in Kursk einen Brand ausgelöst.
Shamil Zhumatov / Reuters
Kämpferische Rede Selenskis
Das Wochenende stand dabei im Zeichen zweier symbolisch bedeutsamer Feiertage. In Erinnerung an den Austritt aus der Sowjetunion vom 24. August 1991 feierte die Ukraine am Sonntag ihren Unabhängigkeitstag. In seiner Rede auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, dem wichtigsten Schauplatz der sogenannten Maidan-Proteste, gab sich Präsident Wolodimir Selenski betont kämpferisch.
Die Ukraine werde nie mehr in eine von Russland als Kompromiss bezeichnete Schande gezwungen. Das Land brauche einen gerechten Frieden. Die Ukraine habe zwar noch nicht gesiegt. Aber sie werde sicherlich nicht verlieren, sagte Selenski, der zum Anlass statt Feldgrün ein traditionelles ukrainisches Bauernhemd trug.
Tags zuvor hatten ukrainische Drohnenpiloten in einer symbolträchtigen Aktion in russisch besetzten Gebieten der Oblast Cherson, aber auch in einigen Dörfern in der russischen Region Kursk ukrainische Flaggen gehisst.
Am 23. August 1991, am Tag vor der Abstimmung über die Unabhängigkeit, hatten Abgeordnete die in Sowjetzeiten verbotene, blau-gelbe Landesflagge ins ukrainische Parlament gebracht. Deshalb wird unmittelbar vor dem Unabhängigkeitstag der Tag der ukrainischen Flagge gefeiert.
Die Nationalfarben Blau und Gelb schmücken am ukrainischen Unabhängigkeitstag das Parlament in Kiew.
Gleb Garanich / Reuters
Russland hält an Maximalforderungen fest
Selenskis Auftritt am Sonntag folgte auf die Diskussionen um mögliche Landabtretungen und internationale Sicherheitsgarantien für die Ukraine nach den Gipfeltreffen vor anderthalb Wochen in Alaska und Washington.
Der russische Aussenminister Sergei Lawrow hatte am Freitag Sicherheitsgarantien für die Ukraine ohne Beteiligung Moskaus eine Absage erteilt. Lawrow sagte zudem, dass die Bedingungen für ein von Trump gefordertes direktes Treffen zwischen Putin und Selenski noch nicht gegeben seien.
Moskau besteht weiterhin auf seinen maximalistischen Forderungen gegenüber der Ukraine. Diese beinhalten nicht nur territoriale Ansprüche, sondern bedeuten letztlich die Unterwerfung des Landes unter Moskaus aussenpolitische Interessen.
Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz kommentierte am Samstag den Stand der Friedensgespräche mit den Worten, man habe auf einer Distanz von 10 Kilometern die ersten 200 Meter zurückgelegt.
Obwohl weiterhin keine diplomatischen Durchbrüche in Sicht sind, gibt es zumindest auf humanitärer Ebene konkrete Ergebnisse. Die beiden Kriegsparteien führten am Sonntag einen weiteren Austausch von jeweils 146 Gefangenen durch.
Ehrengast aus Kanada
Gäste der Feierlichkeiten zum ukrainischen Unabhängigkeitstag waren unter anderen der kanadische Premierminister Mark Carney und der amerikanische Sondergesandte Keith Kellogg. In seinem Bemühen um gute Beziehungen mit Washington ehrte Selenski Kellogg am Sonntag mit einem Orden.
Carney kündigte bei seinem ersten Besuch im Land für September die Lieferung von Drohnen und weiteren Rüstungsgütern im Wert von etwa 580 Millionen Franken an. In seiner Rede spielte Carney auch auf die besonderen Beziehungen zwischen seinem Land und der Ukraine an. Kanada, wo eine grosse Diaspora lebt, war der erste westliche Staat, der die ukrainische Unabhängigkeit anerkannte.
Der kanadischer Premierminister Mark Carney (links) hat bei seinem Besuch in Kiew die baldige Lieferung von Militärhilfen angekündigt.
Efrem Lukatsky / AP
Ebenfalls am Sonntag erklärte die norwegische Regierung, mit einem Betrag in vergleichbarer Höhe die ukrainische Luftverteidigung zu unterstützen. Norwegen und Deutschland finanzieren zwei Patriot-Systeme inklusive Munition sowie Geräte des deutschen Rüstungskonzerns Hensoldt und des norwegischen Herstellers Kongsberg.
Washington blockiert Einsatz von Atacms
Ein Schlaglicht auf die ambivalente amerikanische Unterstützung für die Ukraine warf eine Recherche des «Wall Street Journal». Demnach verhindert Washington seit mehreren Monaten mit einem neuen Bewilligungsverfahren, dass die Ukraine Waffen mit grosser Reichweite gegen Ziele in Russland einsetzt.
Betroffen sind neben sogenannten Atacms-Raketen demnach auch die britischen Marschflugkörper des Typs Storm Shadow, die für die Zielerfassung auf amerikanische Daten angewiesen sind. Der Bericht stellt einen Zusammenhang zwischen dem neuen Verfahren und den amerikanischen Bemühungen her, den Kreml zu Friedensverhandlungen zu bewegen.
Donald Trump hatte die Entscheidung der Biden-Regierung vom November, der Ukraine den Einsatz von Atacms gegen Ziele in Russland zu erlauben, als Dummheit bezeichnet. Am Donnerstag betonte er aber überraschend die Notwendigkeit von Angriffen auf das Land der Invasoren, wenn man einen Krieg gewinnen wolle.
Für die Ukraine dürften solche Volten die Bedeutung unterstreichen, die dem Aufbau eigener rüstungspolitischer Fähigkeiten zukommt. Erst vergangene Woche präsentierte Kiew den Marschflugkörper Flamingo, eine Eigenentwicklung mit einer Reichweite von 3000 Kilometern. Auf den Bericht des «Wall Street Journal» angesprochen, erklärte Selenski bei einer Pressekonferenz am Sonntag, er habe in letzter Zeit mit den USA nicht über dieses Thema gesprochen.