Der israelische Teenager kann kaum fassen, was ihm einer der palästinensischen Jugendlichen am Beginn des gemeinsamen Sommerlagers auf Zypern erzählt: dass er zum ersten Mal in seinem Leben das Meer gesehen habe. Aus dem Flugzeugfenster, als er mit seiner palästinensischen Gruppe nach Zypern flog. Für den jungen Israeli ist das unvorstellbar, für ihn gehören Meer und Strand zum Lebensgefühl. Und die Palästinenser aus dem Westjordanland leben doch nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt.
Solche augenöffnenden Momente gibt es viele in dem Sommerlager auf Zypern, zu dem in dieser Woche Anfang August vierzig Jugendliche zusammengekommen sind. Zwanzig aus Israel und zwanzig aus dem Westjordanland. Nicht alles, was sie zu erzählen haben, ist so harmlos wie die Geschichte vom Meer. Meist geht es um Leid, Gewalt und Tod. All die Erfahrungen, die Israelis und Palästinenser seit Jahrzehnten auseinandertreiben und die Hoffnung auf Frieden im Nahostkonflikt nahezu ausgelöscht haben. Die allermeisten Teilnehmer wissen sogar aus ihrer eigenen Familie, was es bedeutet, jemanden wegen des Konflikts zu verlieren.
Seit etwa zwanzig Jahren bringt die Organisation Parents Circle – Families Forum (PCFF) im Sommer junge Israelis und Palästinenser wie sie zusammen. Während des Sommerlagers sollen sie Spaß haben – sich aber auch über ihre Gefühle und Erfahrungen austauschen und lernen, den anderen zu verstehen. Viele von ihnen haben nie zuvor mit jemandem von der Gegenseite geredet. Nadine Quomsieh, die palästinensische Ko-Direktorin von PCFF, bringt zum Ausdruck, was ihre Hoffnung ist: „Sie treffen sich überwiegend zum ersten Mal – und bleiben Freunde fürs Leben.“
Israelische und palästinensische Jugendliche beim Sommerlager im August auf ZypernDaniel Schoffmann
Das klingt gut und idealistisch. Aber kann das funktionieren – keine zwei Jahre nach dem schlimmsten Terroranschlag in der Geschichte Israels und während der verheerendste Krieg in der Geschichte der Palästinenser weiter im Gange ist, mit noch unabsehbaren Folgen?
Der größte Erfolg ist angesichts dessen vielleicht, dass das Sommerlager überhaupt noch stattfindet. Früher traf man sich in Israel, aber seit dem 7. Oktober 2023 ist es praktisch unmöglich, Genehmigungen für die palästinensischen Jugendlichen zu bekommen. Also wichen sie nach Zypern aus. Für die Israelis ist das ein Flug von knapp einer Stunde. Für die Palästinenser aus dem Westjordanland eine mehr als zweitägige Anreise, über Jericho und Amman. Am Allenby-Grenzübergang benötigten sie zehn Stunden, um nach Jordanien zu gelangen.
In Troodos gibt es keinen Raketenalarm
Aber schließlich haben alle Teilnehmer es nach Troodos geschafft, einem kleinen Ort in den Bergen Zyperns. Dort gibt es frische Luft, viel Grün – und weder Checkpoints noch Raketenalarm. Neben den Jugendlichen, zwischen 14 und 17 Jahre alt, sind zahlreiche Gruppenbetreuer dabei, zudem Leute für Essen und Logistik. Viele der Älteren waren früher selbst Teilnehmer, sie wirken schon wie eine verschworene Gemeinschaft. Die meisten Teenager dagegen müssen einander erst noch beschnuppern.
Schon am ersten Nachmittag müssen die Jugendlichen schwere Brocken schlucken. Zwei PCFF-Veteranen erzählen ihre jeweilige Geschichte. Der Israeli Nir Oren verlor seine Mutter, die Palästinenserin Zinat Awad ihren Sohn. Sie berichten, wie es ihnen gelang, aus dem Kreislauf von Trauer und Hass auszubrechen. Das sei anstrengend gewesen, heißt es später, alle hätten geweint.
Das Sommerlager soll aber kein Trauerlager sein. Und Teenager wollen manchmal auch einfach Teenager sein. Es ist die palästinensische Gruppe, die am ersten Abend den Anfang macht. Der Geburtstag eines Teilnehmers bietet den Anlass – umgehend beginnen sie, auf der Terrasse zu singen und zu tanzen. Arabisch und laut.
Nach einer Weile kommen auch ein paar der Israelis raus, gucken zu, klatschen mit und filmen, wie die Palästinenser Dabke tanzen. Bei dem traditionellen Tanz mitzumachen, traut sich erst noch keiner von ihnen. Aber irgendwann beschließt eine der Israelinnen, die 16 Jahre alte Rona, es sei genug mit Zugucken. Sie zieht ihre halb widerstrebenden Freundinnen in den Kreis, ein junger Palästinenser ruft ihnen zu: „Es ist ganz einfach“ – und dann tanzen beide Gruppen zum ersten Mal in diesem Sommerlager miteinander.
Erzählen und zuhören
Rona erzählt später, dass sie schon zum vierten Mal teilnimmt; sie ist Nir Orens Nichte. „Jedes Mal ist es besser als das Jahr zuvor – und bedeutungsvoller für mich“, sagt die Jugendliche mit den Sommersprossen und den lockigen Haaren. Nur im Sommer nach dem 7. Oktober, also vor einem Jahr, sei es schwieriger gewesen. „Die Stimmung war sehr schwer, und es gab keine Partys – die Organisatoren hielten das für unangemessen.“ Daher ist sie froh, dass dieses Jahr viele Leute gekommen seien.
Die persönlichen Begegnungen seien das Wichtigste, sagt Rona: „Selbst wenn es in den Gruppensitzungen Meinungsunterschiede gibt und es Tränen gibt oder laut wird – wir haben immer noch eine Verbindung zueinander und können danach zusammen tanzen.“
Die Jugendlichen dürften nur nicht vergessen, dass sie alle zum selben Zweck gekommen seien: nicht um „der anderen Seite etwas zu beweisen“, sondern „um sich selbst mitzuteilen und gleichzeitig zuzuhören“. Diese Empathie sei wichtiger als alle kulturellen Unterschiede. „Es ist so hoffnungsvoll hier“, sagt sie. Denn wenn vierzig Teenager aus Hinterbliebenenfamilien Freunde sein könnten, „dann gibt es keinen Grund, dass nicht alle Israelis und alle Palästinenser Freunde sein können“.
Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache
Am ersten Abend jedenfalls liegt für einen Moment Unbeschwertheit in der Luft. Während „Gangnam Style“ und arabischer Pop laufen, meint man zu spüren: Alle, die hergekommen sind, sind bereit, miteinander zu reden – jetzt müssen sie noch eine gemeinsame Sprache finden. Das gilt auch ganz wörtlich.
Von den Palästinensern spricht keiner Hebräisch und die meisten kein Englisch. Die Israelis wiederum können höchstens ein paar Brocken Arabisch. In den Dialogsitzungen und bei anderen Gruppenaktivitäten sind Dolmetscher dabei, aber zwischendurch müssen die Teilnehmer selbst sehen, wie sie sich miteinander verständigen. Der Anfang ist jedenfalls gemacht – bis nach Mitternacht hört man auf den Gängen des Hotels noch Arabisch und Hebräisch, gemischt mit etwas Englisch.
Am nächsten Morgen beim Frühstück wirft Ayelet Harel, die israelische Ko-Direktorin von PCFF, einen Seitenblick auf die Jugendlichen, die müde zum Buffet und dann zu den Tischen trotten, und sagt: „Ah, die Gruppen mischen sich noch nicht.“
Die meisten Palästinenser sitzen an einem langen Tisch, die Israelis haben sich im Raum verteilt. Die 59 Jahre alte Israelin, seit langer Zeit Mitglied von PCFF, ist dennoch zufrieden mit dem ersten Tag. Viele Jugendliche hätten sich während der Auftakt-Dialogsitzung geäußert. Das sei nicht immer so, sagt Harel. „Manchmal haben sie Scheu – auch weil sie Angst haben, etwas Falsches zu sagen.“ Hinter den allermeisten steht eine tragische Familiengeschichte.
Dialogprojekte haben es schwer
Harel und die anderen Organisatoren haben ein verstärktes Interesse an dem Sommerlager registriert. Das hat einen traurigen Grund: Der 7. Oktober hat dazu geführt, dass es viele neue Familien gibt, die Mitglieder verloren haben. Vor allem auf israelischer Seite war die Beteiligung in den Jahren zuvor nach und nach gesunken. „Die meisten Israelis hatten das Interesse am Konflikt und der Besatzung verloren, einfach weil es für sie kein großes Thema mehr war“, sagt Harel. „Für die Palästinenser bedeutet es hingegen alles.“
Dieses Auseinanderklaffen war nicht die einzige Herausforderung. Die Zweite Intifada zwischen 2000 und 2005 führte dazu, dass viele Brücken abbrachen, die in den Oslo-Jahren aufgebaut worden waren. Dialogprojekte wurden eingestellt, auf beiden Seiten wuchsen Frustration und Unverständnis.
Diejenigen Initiativen und Organisationen, die es nach wie vor gibt, haben es schwer. In Israel gibt es Anfeindungen, und die Regierung hat Gelder gestrichen und Schulbesuche verboten. In der palästinensischen Gesellschaft wiederum verbreitet sich die Haltung, mit Israelis zusammenzuarbeiten, bedeute, die Besatzung zu „normalisieren“. Einige der Palästinenser berichten, sie befürchteten, deswegen Probleme zu bekommen.
So erzählt die 15 Jahre alte Alanoud, einige Freunde hätten ihr gesagt, es sei nicht gut, mit Israelis zu sprechen. Sie habe erwidert, dass die Teilnehmer keine Soldaten seien. Außerdem fahre sie dorthin, um die Geschichte ihres Bruders zu erzählen – „und das ist nicht ‚Normalisierung‘, sondern eine Form von Widerstand, um die Besatzung zu beenden“.
Jugendliche beim Sommerlager auf ZypernDaniel Schoffmann
Alanouds Bruder Mahmud wurde 2008 erschossen, als er in ihrem Dorf in der Nähe von Hebron bei einer Beerdigung zwischen die Fronten steinewerfender Jugendlicher und israelischer Soldaten geriet. Sie war da noch nicht geboren, aber der Tod des Bruders hat die Familie tief geprägt – vor allem die Mutter ist in anhaltender Trauer, bis heute trägt sie nur Schwarz. Alanoud ist zum ersten Mal hier und hat zum ersten Mal mit Israelis gesprochen. Es gebe eine „Verbindung“, sagt sie. „Ich möchte ihren Geschichten zuhören, so wie sie meiner Geschichte zuhören.“
Dieses Interesse an Verständigung eint die Teilnehmer, ansonsten wären sie nicht gekommen. Aber natürlich gibt es zugleich große Unterschiede zwischen den Gruppen, und die Jugendlichen sind sich dessen bewusst.
Da sind die sichtbaren kulturellen Unterschiede. Während einige der Palästinenserinnen Kopftuch tragen, sind in der israelischen Gruppe keine religiösen Symbole zu sehen. Die Israelis sind tendenziell legerer gekleidet, vor allem die Mädchen. Viele von ihnen kommen aus dem Großraum Tel Aviv, wo die meisten linken Israelis leben.
Was daneben auffällt: Die Palästinenser zeigen ihre nationale Identität mit größerem Selbstbewusstsein. Sie singen und tanzen viel zusammen. Einige haben auch eine schwarz-weiß gemusterte Kuffiyeh oder andere palästinensische Symbole dabei. Schon am ersten Tag wirken die Palästinenser stärker wie eine Gruppe. Das liegt zum Teil vermutlich daran, dass sie eine längere Vorbereitungszeit und die gemeinsame Reise hatten.
Gegensätzliche Lebenssituationen
Letztlich aber gibt es einen ganz grundsätzlichen Unterschied zwischen den Gruppen: Die Israelis gehören dem Volk der Besatzer an – die Palästinenser sind Besetzte. Ihre Lebenssituationen sind zum Teil völlig gegensätzlich.
Das lässt sich nicht auflösen – aber wird es dadurch aufgehoben, dass die Erfahrung persönlichen Leids die Jugendlichen miteinander verbindet? Immer wieder sprechen Gruppenbetreuer davon, dass es bei dem Sommerlager darum gehe, zu lernen, diese Komplexität aushalten, diese Spannung zu ertragen. Das ist eine große Last, die auf die Schultern der Teenager gelegt wird.
Die meisten gehen mit großer Aufrichtigkeit und großem Ernst damit um. Dass sie sich Frieden und Koexistenz wünschen, steht ihnen geradezu ins Gesicht geschrieben und kommt immer wieder zum Ausdruck. An einem Tag gibt es einen Foto-Video-Workshop. In gemischten Zweiergruppen inszenieren die Teilnehmer Fotos und kurze Filme. Manche Aufnahmen zeigen persönliche Ängste, etwa vor Drogensucht, oder Träume, beispielsweise Fußballprofi zu werden.
Die meisten aber haben etwas mit dem Konflikt und mit der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zu tun. Eine junge Israelin, Yuval, hat ein Foto gemacht, auf dem vor grünen Bäumen die Schleife zu sehen ist, mit der in Israel an die Geiseln im Gazastreifen erinnert wird. Sie hat die Schleife aus einer Kuffiyeh geformt. „Ich wollte zeigen, dass beides zusammengehen kann“, sagt Yuval. Einigen kommen die Tränen, als sie das Bild zeigt.
Die Jugendlichen zeigen die Ergebnisse des Fotoprojekts.Rom Barnea
Es wird noch viel geweint in den Tagen auf Zypern, etwa wenn die Jugendlichen in den Kleingruppen ihre jeweilige Geschichte erzählen. Das sind ganz persönliche und bisweilen auch heikle Momente. Nevo, ein 17 Jahre alter Israeli, hatte sogar Angst davor. Seine Großmutter wurde im Januar bei einem Schusswaffenanschlag eines Palästinensers ermordet. Allerdings lebte sie in einer Siedlung im Westjordanland. „Ich hatte Angst, dass es heftige Reaktionen darauf geben würde“, erzählt Nevo später. Er sei so nervös gewesen, dass er die Geschichte „ohne emotionale Verbindung“ erzählt habe. Das befürchtete Unverständnis der Palästinenser blieb aber aus, und später habe er die Geschichte noch einmal jemandem erzählen können, „mit größerer innerer Aufrichtigkeit“.
Solche emotionalen Barrieren und Hindernisse gibt es immer wieder. Und manchmal stößt das Verständnis auch auf Grenzen. Es gibt aufgeladene Themen – etwa die israelische Armee, die von Israelis und Palästinensern völlig unterschiedlich wahrgenommen wird. Oder der 7. Oktober. In der mittleren der drei Altersgruppen kommt es an einem der letzten Tage zu einem Konflikt, von dem später mehrere Gruppenbetreuer berichten.
Er beginnt, als das Gespräch auf die zu Jahresbeginn freigelassenen Geiseln kommt. Die Palästinenser legen nahe, sie seien von der Hamas gut behandelt worden – jedenfalls besser als die in Israel inhaftierten Palästinenser. Einige der Israelis fühlen sich dadurch vor den Kopf gestoßen. Als einer von ihnen in dieser Situation die Geschichte seiner Großeltern erzählt, die am 7. Oktober ermordet wurden, heizt das die Situation eher an, als dass es sie beruhigt. Denn in der palästinensischen Gruppe gibt es nun das Bedürfnis, die Vorgeschichte jenes Tages zu erzählen.
Kurzzeitig habe eine echte Spaltung zwischen beiden Seiten geherrscht, sagt Guy, einer der israelischen Gruppenbetreuer. Aber schließlich sei es gelungen, die Diskussion zu beruhigen. „Wir können die Wirklichkeit letztlich nicht verändern und den Konflikt nicht lösen“, sagt Guy. „Was wir schaffen können, ist, dass es beiden Seiten gelingt, ihre jeweiligen nationalen Narrative zu überwinden.“ Aber das ist lange, harte Arbeit.
Ein paar Tage auf Zypern können dafür den Grundstein legen – nicht mehr und nicht weniger. Es gibt bewegende Momente und frustrierende. Aber alle sagen, wie wichtig die Erfahrung für sie ist. Die Palästinenserin Alanoud berichtet, das Zusammentreffen mit Israelis habe ihre Weltsicht verändert. „Ich dachte, wir würden uns nicht verstehen – aber das Gegenteil war der Fall.“ Der Israeli Nevo sagt, das Sommerlager sei eine „lebensverändernde Erfahrung“ für ihn. Und er wolle jetzt alles dafür tun, dass es nicht eine einmalige Sache bleibt.
Ein Plan bleibt aber unerfüllt. An einem Tag des Sommerlagers ist ein gemeinsamer Strandausflug vorgesehen. Manche der Israelis freuen sich fast noch mehr darauf als die Palästinenser – weil sie inzwischen wissen, dass einige Palästinenser zum ersten Mal am Meer sein werden. Ein Waldbrand macht den Plan zunichte, die Fahrt muss abgeblasen werden. Alle seien „sehr aufgebracht und traurig“ gewesen, sagt Alanoud rückblickend.
Erst ganz zum Schluss schaffen die Palästinenser es doch noch ans Meer, aber ohne ihre neuen israelischen Freunde. Die sind ein paar Stunden vorher schon abgereist. Die palästinensische Gruppe kann auf dem Weg zum Flughafen zumindest einen kurzen Stopp an einem Strand einlegen. Dann geht es weiter – zurück nach Hause, in die Wirklichkeit.