Auch wenn Donald Trump plötzlich Angriffe auf Russland ermöglichen will: Die ukrainischen Optionen sind beschränkt. Selbst ein operativer Rückzug auf die neuen Befestigungen hinter der Front birgt Risiken.
Vorne rasen russische Soldaten auf Motorrädern über die Feldwege, hinten steht der grosse Verband: eine Brigade, manchmal eine Division, welche die Sturmfahrten zwischen den ukrainischen Minenfeldern dirigieren. Die Donbass-Front bewegt sich, allerdings im Kleinstmassstab. Noch vermag die ukrainische Seite dem russischen Ansturm standzuhalten – in verbunkerten Stellungen und zerschossenen Städten.
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In einem ähnlichen Rhythmus verlaufen die Friedensverhandlungen, die der amerikanische Präsident Donald Trump initiiert hat: Phasen operativer Hektik wechseln sich ab mit Desinteresse des Weissen Hauses. Einmal hofiert Trump den russischen Machthaber Wladimir Putin, dann droht er dem Kreml wieder. Die europäischen Alliierten Kiews suchen derweil nach Lösungen, wie sie notfalls auch ohne die USA die Existenz der Ukraine garantieren können.
Die ukrainische Seite scheint in die westliche Planung involviert zu sein: «Unsere Teams, vor allem das Militär, haben bereits mit der aktiven Arbeit an der militärischen Komponente der Sicherheitsgarantien begonnen», schrieb Andrei Jermak, der mächtige Stabschef von Präsident Wolodimir Selenski, am vergangenen Mittwoch in den sozialen Netzwerken. Die Aufgabe der ukrainischen Armee ist klar: Russland darf keinen Durchbruch schaffen.
Besatzer durchbrechen «neue Donbass-Linie»
Die ukrainischen Bodentruppen befinden sich in einer unbequemen Lage: Zu wenig Soldaten stemmen sich auf einer zu langen Frontlinie einem Gegner entgegen, der trotz hohen Verlusten seine Bestände ständig zu erhöhen vermag. General Olexander Sirski, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, schrieb in seinem Tagesbefehl vom 6. August, der Gegner habe im Juli 33 200 Soldaten verloren, aber 9000 Mann neu auf das Gefechtsfeld geführt: «Die russische Führung plant, bis Ende des Jahres zehn neue Divisionen zu bilden, von denen bereits zwei geschaffen wurden.»
Diesen Sommer vermochten die Angreifer gleich an drei weit voneinander entfernten Orten gleichzeitig Druck aufzubauen: vor allem im Donbass, aber auch hinter Charkiw und Sumi. Anfang August, kurz vor dem Gipfel von Alaska, gelang den russischen Motorrad-Sturmtruppen nordöstlich von Pokrowsk ein Coup: ein plötzlicher Vorstoss von 15 Kilometern. Sirski musste die letzten Reserven zusammenkratzen, um die Besatzer – mindestens teilweise – zurückzudrängen.
Der kurze, taktische Erfolg der Besatzer offenbart Lücken und Schwachstellen in der ukrainischen Verteidigung: Die russischen Aufklärer durchdrangen die befestigten Stellungen der «neuen Donbass-Linie», die in den letzten Monaten entstanden ist. Minenfelder, lange Reihen von Betonblöcken, die an eine Toblerone erinnern, und Stacheldraht verstärken das Gelände dort, wo dem Gegner nicht ohnehin natürliche Hindernisse im Weg stehen. Erdwälle und Panzergräben sollen zudem die Fortbewegung auf Rädern und auf Ketten verlangsamen.
Doch mit den Motorrädern haben die ukrainischen Genie-Offiziere nicht gerechnet, als sie Befestigungen planten. Auf der Höhe der Ortschaft Soloti Kolodjas durchbrachen die Spitzen der russischen Sturmtrupps sogar eine zweite Verteidigungslinie und erreichten die Verbindungsstrasse zwischen Kramatorsk und Pokrowsk. Erst Verbände einer ukrainischen Luftlandebrigade vermochten die Lebensader der Verteidiger an der Front von russischen Soldaten zu säubern.
Erfolgreiche Tarnung der Ukraine
Eigentlich sollte die «neue Donbass-Linie» die ukrainischen Bodentruppen entlasten. Eine militärische Faustregel sagt, dass jemand, der eine befestigte Stellung angreift, fünfmal so viel Kraft braucht wie ein Verteidiger – je nach Gelände sogar neunmal so viel.
Doch wie weit sind die Arbeiten an diesem Befestigungswerk? Besteht die Möglichkeit eines operativen Rückzugs der ukrainischen Armee? Welche Erkenntnisse lassen sich aus den Positionen der Geländeverstärkungen ableiten?
Die Befestigungen stärken die Position der Ukraine in den Verhandlungen und sind letztlich eine Sicherheitsgarantie gegen mögliche Gebietsabtretungen. Deshalb verschleiert Kiew auch das tatsächliche Ausmass der «neuen Donbass-Linie». Eine Übersichtskarte hat der ukrainische Generalstab nicht veröffentlicht. Opsec lautet die Begründung, «operational security», oder schlicht Tarnung auf Deutsch.
Die bisher umfangreichste Karte mit den ukrainischen Verteidigungslinien publizierte der französische Student Clément Molin in den sozialen Netzwerken. Von der gesamten Frontlinie sind zudem kommerzielle Satellitenbilder erhältlich, in einer mittleren Auflösung. Eine Prüfung von Molins Arbeit auf Basis dieser Bilder ergibt, dass seine Darstellung der Geländeverstärkungen ein hohes Mass an Präzision aufweist. Laut Molin scheint die Ukraine die gesamte Frontlinie befestigt zu haben, am stärksten die Abschnitte im Donbass.
Ein Festungsgürtel als Schlüsselgelände
Die Arbeiten an den ukrainischen Verteidigungslinien haben erst Anfang dieses Jahres, also sehr spät begonnen, wie Stichproben zeigen: Das Dorf Torske in der Nähe des Knotenpunkts Liman im Osten des Donbass etwa war im Februar noch unbefestigt. Im Juli war der Hauptgraben der Anlagen durchgehend ausgehoben. Nicht zu erkennen auf den Satellitenbildern sind die Minen und die Betonkonstruktion.
Auf einer schematischen Darstellung wird deutlich, dass sich die Befestigungen dem Gelände anpassen. Das wichtigste Bollwerk bildet ein überbautes Gebiet aus vier Städten, von Slowjansk im Norden bis nach Konstantinowka im Süden. Drei der Städte liegen am Kasenni Torez, einem Nebenarm des Donez-Flusses. Diese Gewässer bestimmen mit ihren Zuflüssen die militärischen Möglichkeiten entlang der aktuellen Frontlinie, ebenso wie die Wälder. In der Stadt Kramatorsk kommen zudem die wichtigsten Eisenbahnlinien für die Versorgung der Truppen zusammen.
Hinter diesen vier Städten, dem Schlüsselgelände an diesem Frontabschnitt, liegt die eigentliche, die entscheidende «Donbass-Linie». Dieser doppelte Sperrgürtel ist auf den schlimmsten Fall ausgerichtet: einen gegnerischen Durchbruch auf breiter Front. Denn falls die russischen Truppen das überbaute Gebiet durchkämpft haben, können sie entlang der verschiedenen Gewässer verhältnismässig rasch vorrücken. Deshalb sind die Verteidiger auf diese Befestigungen der letzten Möglichkeit angewiesen.
Zusätzlich zu den Befestigungen parallel zur Front versuchen die ukrainischen Planer, die Angreifer zu kanalisieren. Deshalb ist das Gelände teilweise auch entlang einer möglichen Marschrichtung aus den besetzten Gebieten Richtung Nordwesten befestigt. So werden Rochaden und andere taktische Manöver verhindert. Die gegnerischen Truppen können sich weder gegenseitig unterstützen noch den Verteidigern in den Rücken fallen. Ihre Bewegungen werden damit berechenbarer.
Entlang der drei operativen Faktoren Raum, Kraft und Zeit lassen sich drei wesentliche Erkenntnisse ableiten:
- Zeit: Die ukrainische Armee hat sich lange Zeit gelassen, das Gelände zu verstärken. Denn damit werden auch die eigenen Möglichkeiten für überraschende Aktionen beschränkt. Spätestens seit der Demütigung Selenskis im Weissen Haus Ende Februar scheint Kiew nicht mehr an eine aktive Verteidigung mit einer grossen Gegenoffensive zu glauben.
- Raum: Zwischen Konstantinowka und der Ortschaft Dobropilla scheint es eine Lücke zu geben, welche die Angreifer Anfang August ausgenutzt haben. Noch immer scheinen Besatzungstruppen auf der anderen Seite der Geländeverstärkung zu stehen. Offenbar war das operative Kommando der russischen Verbände im Donbass aber selbst vom Erfolg überrascht und konnte nicht rasch genug Reserveverbände nachfliessen lassen.
- Kraft: General Sirski versucht in seinen Tagesbefehlen insbesondere für diesen Frontabschnitt Zuversicht zu verbreiten. Diese Woche verkündete er, das neu gebildete Korps für die Operationszone «Donezk» könne nun mit dem «festgelegten Truppenansatz» arbeiten. Damit will der Oberbefehlshaber sagen, dass die Verbände in diesem Raum mit genug Soldaten ausgestattet sind. Überprüfen lässt sich diese Aussage allerdings nicht.
Offensichtlich will Kiew die teilbesetzten Oblaste nicht räumen und widersetzt sich damit deutlich den Bedingungen Putins für Friedensverhandlungen. Der russische Präsident verlangt, dass sich die ukrainische Armee aus dem ganzen Gebiet von Donezk, Saporischja und auch Cherson zurückzieht. Die Besatzer könnten kampflos hinter die «neue Donbass-Linie» nachrücken, hofft Putin, dem es nie um die paar Gebiete ging, sondern um den Wiederaufbau des russischen Reichs.
So missbraucht der Kreml die Diplomatie, um die eigene Ausgangslage für eine Fortsetzung der Offensive zu verbessern. Ähnlich schwierig wie ein Rückzug aus dem gesamten Gebiet von Donezk wäre die Aufgabe der Oblast Cherson. Die russischen Truppen dürften in diesem Fall den Dnipro überqueren. Sie könnten sich auf der Westseite des Stroms so vorbereiten, dass sie später die Stadt Odessa sowie die Schwarzmeer-Küste bedrohen können.
Doch weder Moskau noch Kiew scheinen mit einem solchen Szenario zu rechnen: Die russischen Truppen versuchen weiter, den Knotenpunkt Kramatorsk einzuschliessen und einen grossen Kessel im Donbass zu bilden. Eine Offensive bei Sumi oder Charkiw ist nicht auszuschliessen, deshalb braucht Sirski freie Kräfte als Reserve. Viele Möglichkeiten, die Kämpfe mit einem operativen Rückzug zu beruhigen und die eigenen Truppen zu reorganisieren, hat er nicht.
Dank der Geländeverstärkungen könnten sich die Verteidiger geordnet aus Pokrowsk herausbewegen, um einen Zangenangriff zu vermeiden. Grundsätzlich weiss Sirski aber, dass er verlorenes Gelände kaum wieder in Besitz nehmen kann. Die Ukraine braucht deshalb noch mehr und noch stärkere Befestigungen: entlang der gesamten Front und auch an der Grenze zu Weissrussland. Auf den Satellitenbildern ist zu erkennen, dass die Bautätigkeit in den letzten Wochen weiter voranschritt.
Präsident Trump animiert die Ukraine gegenwärtig, auch Ziele in Russland anzugreifen: mit Marschflugkörpern, Raketenartillerie, Drohnen und vielleicht sogar Kampfjets. An der Lage am Boden wird sich aber kurzfristig nichts ändern. Mit den Geländeverstärkungen schafft sich Kiew eine eigene Sicherheitsgarantie gegen einen Diktatfrieden.