München hat 2024 die Grenze von 1,5 Millionen Einwohnern durchbrochen. Aber nicht nur die bayerische Landeshauptstadt wächst. Auch das Umland legt zu. Und das seit Jahrzehnten. Wie sehr sich die Region verändert hat und wie sich Dörfer zu urbanen Räumen wandeln, zeigt sich besonders deutlich in Unterschleißheim und dem Ortsteil Lohhof. Wo noch in den Sechzigerjahren Felder, Bauernhöfe und geduckte Siedlungshäuser dominierten, beherrschen heute Gewerbegebiete, Bürokomplexe und Hochhäuser das Bild. Vor 25 Jahren wurde Unterschleißheim zur Stadt. Abgeschlossen ist der Prozess der Urbanisierung bis heute nicht.
Unterschleißheim blickt ein Vierteljahrhundert nach der Stadterhebung zurück auf seine Entwicklung. Und ganz egal, ob die Bürger zum „White Dinner“ auf dem Rathausplatz zusammenkommen, oder sich beim Hip-Hop-Festival im Jugendkulturhaus treffen – es geht immer auch um die grundlegenden Fragen. Was macht Unterschleißheim aus? Was macht es zur Stadt? Die Voraussetzungen dazu bringt die Kommune locker mit. Alleine die Größe: Mit 30 000 Einwohnern ist es die einwohnerstärkste Kommune im Landkreis München. Unterschleißheim hat starke Gewerbe-Strukturen, das ganze Repertoire an Schulen und bietet seinen Bürgern ein reiches Kulturprogramm.
Seit zwei Jahren hat man sogar ein Stadtmuseum. Und dort geht die Sonderausstellung „Dorf-Stadt-Unterschleißheim. Geschichte(n) seit den 1970ern bis heute“ der rasanten Urbanisierung auf den Grund.
Jeder kann an einer Mitmachtafel markieren, was für ihn ein Grund war, nach Unterschleißheim zu ziehen. (Foto: privat)
Diese Verstädterung ist zunächst keine reine Jubelgeschichte. Franziska Walter ist Historikerin und hat als Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums die Ausstellung gemeinsam mit Sabrina Norty kuratiert. Sie erzählt von dem Dokumentarfilmer Dieter Wieland, der in den Achtzigerjahren in Filmen wie „Grün kaputt“ im Bayerischen Fernsehen zeigte, was damals an gewachsenen Strukturen zerstört wurde. Quer durchs Land entstanden Bauten wie die 1971 ins freie Feld gesetzte heutige Le-Crés-Brücke, die unwiederbringlich den Charakter eines Siedlungsraums veränderte. Ein Bild dieser Baustelle ist in der Ausstellung im ersten Raum zu sehen, wo es um das prägende Thema „Wohnen“ und „Infrastruktur“ geht. Bauen, bauen, bauen war die Devise. Es fehlte damals an Wohnraum – gerade so wie heute.
Die Olympischen Spiele 1972 waren wie eine Initialzündung. Die neue S-Bahn rückte das Umland ran an die Stadt. Großsiedlungen wuchsen in die Höhe in München und im Einzugsgebiet, ob in Taufkirchen, Haar, Germering oder Unterschleißheim. Ein Bild in der Ausstellung zeigt ein Hochhaus am Margaretenanger. Und dazu in einer Sprechblase die Frage einer alten Unterschleißheimerin: „Des wär doch was, da hinten das Haus für Euch.“
Die Ausstellungsmacher haben versucht, die Bürger der Stadt einzubeziehen. Sie sollten erzählen, die entscheidenden Fragen aufwerfen und die Antworten geben. Es gab Erzählcafés und Workshops. Menschen sollten Gegenstände benennen und Themen einbringen, die für sie die Stadt heute ausmachen.
Franziska Walter schätzt besonders, wenn sich die Unterschleißheimer einbringen. Das gilt auch weiter. Denn das Ausstellungsprojekt ist nicht abgeschlossen. (Foto: privat)
Die Stadterhebung im Jahr 2000 war wohl das historische Ereignis in Unterschleißheim schlechthin. Gefeiert wurde am 16. Dezember 2000 auf dem Rathausplatz, der mittlerweile samt Rathaus und Einkaufszentrum neben die einst so mutig in die Landschaft gesetzte Le-Crès-Brücke errichtet worden war. Wer die Ausstellung betritt, kann dem Ereignis mit dem Geruchssinn nachspüren. Die eigens damals dafür produzierten Stadt-Erhebungstassen stehen in einer Vitrine und obendrauf steht eine Tassen-Nachbildung aus Schaumstoff, an der man Glühweinduft erschnuppern kann, der damals über dem Platz lag, auf dem sich die Neu-Städter zuprosteten. An einer zweiten Mitmachstation kann der Besucher einen fünf Kilo schweren Stapel Papier anheben. So schwer waren die Antragsunterlagen, die für die Stadterhebung eingereicht wurden.
Man machte das damals selbstbewusst. Die Gemeinde Unterschleißheim hatte sich von 7317 Einwohnern im Jahr 1970 stark entwickelt. 1980 zählte man 17 869 Menschen. Bis zum Jahr 2000 hatte man noch mal um fast 10 000 Bürger zugelegt und kam auf 25 633 Bewohner. „Diese Schritte von den Siebzigern bis heute zeigen schon, dass sich Unterschleißheim Richtung Stadt entwickelte“, sagt Franziska Walter. Die Ausstellung bringt die Atmosphäre dieser Jahre eines rasanten Wachstums rüber und zeigt eine Seite aus einem Schöner-Wohnen-Katalog, in dem sich junge Familien bei der Wahl ihres neuen Heims Rat holten. Viele seien nach Unterschleißheim gezogen, weil sie ein Eigenheim angestrebt oder überhaupt eine Wohnung gesucht hätten, sagt Walter.
Ein Trikot der Volleyball-Damen des SV Lohhof aus den Achtzigerjahren, mit Unterschriften der Spielerinnen. (Foto: privat)
Viele fanden am Ort auch Arbeit. Die Textilfabrik Al-Pa-Loh steht für den Aufschwung nach dem Krieg, der Gase-Hersteller Linde kam in die Stadt. Bürostandorte entwickelten sich wie der Edisonpark in Lohhof. Aktuelle Zahlen zeigen, dass auf 11 670 Auspendler sogar 13 473 Einpendler kommen. „Das ist stabil dauerhaft so“, sagt Kuratorin Walter, „was zeigt, dass Unterschleißheim keine Schlafstadt ist.“ Die Neubürger fanden Anschluss in Vereinen. Bereits 1930 wurde der SV Lohhof gegründet, der mächtig an Mitgliedern zulegte und sportlich von sich reden machte. Ein Trikot aus den Achtzigerjahren der damals schon erfolgreichen Volleyball-Damenmannschaft ist in einer Vitrine ausgestellt und symbolisiert das. Mehr als 120 Vereine zähle die Stadt, sagt Walter.
Auch das politische Leben wurde bunter, eine Bürgerinitiative kämpfte für einen Bahntunnel. Die Befürchtungen vor einer zu starken Verstädterung seien immer unterschwellig da, sagt Walter. Zum Ausdruck kam das bei einem Bürgerentscheid gegen Hochhäuser im Jahr 2012, der dazu führte, dass Gebäude bis heute nicht höher als 50 Meter gebaut werden. Aus Sicht von Franziska Walter gehört zu einer lebendigen und funktionierenden Stadt auch eine Verwaltung mit einer Mitmachkultur, die den Bürgersinn fördert, wie es in dem Online-Beteiligungsinstrument „Consul“ zum Ausdruck kommt.
Fünf Kilo Antragsunterlagen: Die Stadterhebung musste gut begründet sein. (Foto: Stadtmuseum)
Die Ausstellung beleben Aussagen von Bürgern wie von Peter Schmid, der kaum glauben kann, was die Stadt mittlerweile für ein Kulturprogramm bietet. „Dreigroschenoper war am Sonntag … so Sachen: Das hätte ich mir nie früher träumen lassen, dass die in so einem Umfeld möglich sind.“ Gerhard Kappler lobt derweil den Wochenmarkt, Barbara Baumgartner kritisiert ein fehlendes Einkaufszentrum. Damit spricht sie an, dass Unterschleißheim bis heute kein richtiges Zentrum hat. Eine lebendige Mitte. Denn das neben der Le-Crès-Brücke vor bald 50 Jahren geschaffene Ensemble aus Einkaufszentrum samt Rathaus und Rathausplatz dümpelt vor sich hin. Die in den Achtzigerjahren errichteten Gewerbeblock steht marode leer. Den Neubau der Stadtmitte will der Investor Rock Capital aber angehen. Die Planung ist fortgeschritten, bis 2033 soll die Stadt auch dort vollendet sein.
Eine Bürgerinitiative forderte einen Bahntunnel für Unterschleißheim und trat mit der Parole beim Faschingszug auf. (Foto: privat)
Franziska Walter hofft weiter darauf, dass viele Bürger sich noch mit ihr auf die Spurensuche begeben und sich einbringen in die interaktive Schau, die vertiefende Informationen im Internet anbietet. Wer in der Ausstellung präsentierte QR-Codes mit dem Smartphone ansteuert, kommt auf Seiten mit Texttafeln und weiterführenden Beiträgen. Auch Führungen, Erzählcafés und ein „Urban Sketching“ sind geplant, sagt Walter. Bei letzterem geht es mit Zeichenblock und Stiften durch die Stadt: Damit jeder sein Bild von Unterschleißheim zu Papier bringt.
Kuratorinnenführungen sind jeweils am Donnerstag, 18 Uhr, nämlich am 4. September, 23. Oktober und 27. November geplant. Erzählcafés finden statt jeweils am Donnerstag, 17 Uhr, am 18. September und am 13. November. Ein weihnachtliches Erzählcafé ist zwei Tage nach dem historischen Festakt zur Stadterhebung vor 25 Jahren am Donnerstag, 18. Dezember, 16 Uhr, geplant. Zum Urban Sketching geht es am Samstag, 27. September, 11 bis 13 Uhr. Treff ist jeweils am Stadtmuseum, Rathausplatz 1, beim Solana-Café um die Ecke. Sämtliche Veranstaltungen sind ohne Anmeldungen und kostenfrei, wie auch der Besuch der Ausstellung selbst. Diese läuft noch bis 21. Dezember. Geöffnet ist sie donnerstags von 17 bis 20 Uhr, freitags von 14 bis 17 Uhr sowie samstags und sonntags jeweils von 11 bis 16 Uhr.