Die ersten berüchtigten 100 Tage der neuen Regierung unter Bundeskanzler Merz waren am 14. August vorbei, die Stimmung im Land ist nicht besser geworden. In einer Forsa-Umfrage, alle anderen Umfragen geben ein anderes Bild, liegt erstmals die AfD vor der CDU, die Grünen liegen bei 11 – 12 Prozent. Schaut man auf die Regierungsarbeit, dann erhebt sich der Eindruck, es ginge hauptsächlich weiter mit dem Kampf gegen grün-linke Politik.
So verbietet Wolfram Weimer das Gendern, Alexander Dobrindt konzentriert sich auf das Thema Migration, gibt Millionen für die Grenzüberwachung aus und reklamiert für sich den Rückgang der Asylbewerberzahlen, der aber schon vor Regierungsantritt festzustellen war.
Katherina Reiche kippt die Energiewende zugunsten der Öl- und Gaskonzerne und Friedrich Merz stellt die Marktfähigkeit von Elektroautos infrage. Auch die Wahl der Verfassungsrichter wurde, auch aus der CDU/CSU-Fraktion heraus, torpediert. Belassen wir es bei diesem Eindruck.
Dazu sprachen wir am 19. August 2025 mit Paula Piechotta, Bundestagsabgeordnete aus Leipzig für Bündnis 90/Die Grünen seit 2021.
Frau Piechotta, die Grünen sind in der Opposition, normalerweise ist das eine Chance für eine Neuaufstellung. Die Umfragewerte sind stabil, das Kernklientel scheint treu zu sein, wie soll es weiter gehen.
Ich glaube das, was wir jetzt sehen ist, dass CDU und SPD aufgrund dieser schlechten Regierungsarbeit, die sie mit Ausnahme der Außenpolitik gerade machen, massiv einbüßen, auch nochmal im Vergleich zur Bundestagswahl.
Aber wenn wir und die Linke und gegebenenfalls noch andere Parteien es nicht schaffen davon zu profitieren, dann profitiert am Ende unterm Strich tatsächlich nur die AfD. Das heißt, es ist jetzt unsere verdammte Aufgabe, von diesen 11 Prozent wieder wegzukommen. Und es ist auch eine Aufgabe für meine Führung.
Besonders in Ostdeutschland haben die Grünen stark an Stimmen verloren, einige Medien sagen schon „Die Grünen verstehen Ostdeutschland nicht!“ Wie kommt der Eindruck zustande?
Ich würde nicht sagen, dass wir überproportional verloren haben. Wir sind ja zum Beispiel hier in Sachsen immer ungefähr bei der Hälfte des Bundesschnitts. Und da sind wir einfach proportional mit heruntergegangen. 2021 haben wir zum ersten Mal im ganzen Land neue Zielgruppen erreicht. Auch Leute, die nicht die Zeit lesen, auch Leute, die nicht zu den Besserverdienern gehören.
Das war ganz wichtig und hat sofort dazu geführt, dass wir auch im Osten stärker wurden. Und wenn du das dann halt alles wieder verspielst, dann verlierst du die Leute halt auch im Osten. Und deswegen ist aus meiner Sicht das Allerwichtigste, dass man wieder mehr Menschen anspricht und natürlich aus den Fehlern der Ampel lernt.
Dazu gehört aber auch, dass die Leute in allen Regionen Deutschlands wissen: Leute von mir und meine Interessen sind, auch in der Spitze, bei den Grünen vertreten. Und da ist bei uns natürlich, was Arbeiterkinder angeht, was Ostdeutsche angeht, noch Luft nach oben.
Die Grünen haben das Sondervermögen Infrastruktur mitgetragen, allerdings mit dem Zusatz, dass die Investitionen „zusätzlich“ erfolgen sollen. Was ist daraus geworden?
Der Kampf dauert an, noch ist es ja nicht beschlossen. Klingbeil wollte ja, dass das schon vor der Sommerpause beschlossen wird. Und sehr, sehr viele, auch in der CDU und in der SPD, finden es nicht gut, dass er jetzt so große Teile des Sondervermögensverkehrs für andere Sachen missbrauchen will.
Wir hören aus der Koalition, dass am Ende definitiv die Pläne von Lars Klingbeil dann nicht eins zu eins umgesetzt werden und dass mehr Verkehr aus dem Sondervermögen finanziert wird, als Lars Klingbeil sich das wünschen würde. Die, die das für uns damals verhandelt haben, hätten das noch wasserdichter verhandeln können. Das auf jeden Fall.
Eines der zur Zeit wichtigen Themen ist nach wie vor der Krieg in der Ukraine. Wie stellen sich die Grünen zu eventuellen Sicherheitsgarantien mit deutscher Beteiligung?
Frieden in der Ukraine und ein Stopp des Tötens in der Ukraine ist einfach ein europäisches Sicherheitsinteresse. Wir alle haben hier die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger, die hier mit uns in Leipzig und in ganz Deutschland wohnen. Und wenn die Ukraine zusammenbricht, bekommt Putin nicht nur unglaublich viel Zugriff auf das ukrainische Militär, was ein sehr großes Militär ist.
Ich glaube, niemand in Europa möchte, dass Putin auch noch die ukrainischen Truppen in seine Armee aufnimmt und dann gegebenenfalls Europa angreift.
Auf der anderen Seite ist es sicherlich so, dass für uns in Europa einfach gilt, dass jede weitere Niederlage für die Ukraine nicht nur einfach weitere Menschen auf der Flucht bedeuten würde. Sondern es würde auch bedeuten, dass man in Europa wirklich nicht mehr sicher sein kann, dass Grenzen Grenzen sind. Und dass, wenn sich herumspricht, dass man auch im 21. Jahrhundert mit Angriffskriegen tatsächlich sein eigenes Land vergrößern kann, dann werden wir auch im 21. Jahrhundert viele Kriege, auch auf europäischem Boden, erleben.
Ich glaube, ganz wichtig ist jetzt, dieses Erbe unserer Großeltern und Eltern, die in Diktaturen leben mussten, zu bewahren. Die in der Nachkriegszeit oder sogar im Krieg gelebt haben, was jeweils beschissen war für diese Familien und für diese Menschen, was Traumata in Familien ausgelöst hat, die wir teilweise bis heute am eigenen Leib spüren. Ich finde, das sollte alles Ansporn genug sein, den Krieg in der Ukraine mit allen erdenklichen Mitteln zu stoppen.
Ich hatte ja gefragt: Wie stehen die Grünen dazu? Es gab ja immer diesen Streit mit der Friedensbewegung innerhalb der Grünen.
Das sind hauptsächlich die ur-westdeutschen 70er-Jahre-Grünen. Die Grünen hier sind ja aus Bündnis 90 entstanden. Und Bündnis 90 hatte einen sehr klaren Blick auf die Sowjetunion, auf die sowjetischen Großmachtträume. Und das, was wir bei Putin jetzt erleben, ist ja der Wunsch, das alte Zarenreich, oder die Sowjetunion, wieder auferstehen zu lassen. Deswegen glaube ich, gerade bei uns ostdeutschen Grünen gibt es wenige, die einem naiven Pazifismus anhängen, der am Ende nur Putin hilft.
Anderes Thema: Sie sind Gesundheitspolitikerin, es gibt Diskussionen über Kranken- und Pflegeversicherung, Leistungskürzungen drohen und Eigenanteile der Versicherten sollen steigen. Wie stehen die Grünen dazu?
Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass die Koalition das jetzt nicht weiter aufschiebt. Jedes Jahr, welches wir mit der Reform warten, führt dazu, dass das Defizit noch mal 6 bis 8 Milliarden größer wird. Aber es ist nicht so, dass Leistungskürzungen alternativlos sind. Es ist nur so, dass sich Nina Warken und Friedrich Merz einfach bestimmte Sachen, die gemacht werden müssen, nicht trauen.
Zum Beispiel ein Stopp bei den ansteigenden Medikamentenkosten. Zum Beispiel den Apotheken klaren Wein einschenken, dass sie jetzt nicht noch stark steigende Vergütungen erwarten können in den nächsten Jahren, weil diese Gesundheitsversicherung auch von irgendjemandem bezahlt werden muss. Sogar der CDU-geführte Bundesrechnungshof sagt, dass das, was Nina Warken gerade macht bei der Krankenhausreform, diese nämlich wieder zu verwässern, das lässt die Kosten noch mal explodieren.
Was wir jetzt brauchen, ist eine Ausgabenkontrolle in der gesetzlichen Krankenversicherung, damit die Beiträge eben nicht ins Unermessliche steigen. Und aus meiner Sicht hat die aktuelle Koalition alleine nicht die Kraft dafür, da müssen sie schon Grüne und Linke mit ins Boot holen. Auch mit dem Ziel, damit das nicht nach der nächsten Bundestagswahl, wann auch immer die ist, schon wieder einkassiert wird.
Sie standen oft, wegen Aussagen zu anderen Politikern wie zu Scholz und Pellmann, in der Kritik. Werden Sie sich künftig mäßigen, oder ist das Ihr Markenzeichen?
Ich glaube, man sieht gerade bei der Auseinandersetzung mit Jens Spahn, dass es wichtig ist in so einer Zeit, mit sehr klarer Stimme und sehr ehrlich Menschen zu kritisieren, wenn sie Mist gebaut haben. Und das werde ich auf jeden Fall weiter machen.
In der Ampelregierung haben sich die Grünen oft im, verständlicherweise erforderlichen, Klein-Klein der Regierungsarbeit verzettelt, es entstand für viele Menschen der Eindruck, es ginge nicht mehr um Kernthemen. Jetzt soll besonders der Klima- und Naturschutz wieder in den Vordergrund gerückt werden. Was wollen Sie persönlich dafür tun?
Ich bin Grüne, das heißt, ich rede natürlich unglaublich viel über die Dürre in Ostdeutschland. Ich rede darüber, dass es in Städten wie Leipzig wahnsinnig heiß ist im Sommer und dass das auch ein Gesundheitsrisiko darstellt. Aber natürlich bin ich auch an allererster Stelle Haushalts-, Verkehrs- und Gesundheitspolitikerin und gucke dann: Was bedeutet die Klimakrise eigentlich für diese Themenfelder?
Es ist so im Bereich Gesundheit: Eine höhere Durchschnittstemperatur führt dazu, dass bestimmte tropische Erkrankungen hier zunehmend wahrscheinlicher werden. Das bedeutet, dass Krankenhäuser ganz anders auf Hitzeschutz ausgelegt werden müssen, dass wir alte Menschen anders im Sommer schützen müssen als bislang, weil es schlicht und ergreifend insbesondere für Herzinfarkte, für Schlaganfälle ein verändertes Risiko durch die Hitze gibt.
Im Bereich Verkehr bedeutet das natürlich, dass wir zunehmend erleben, dass auch unsere Verkehrsinfrastruktur sehr krasseren Temperaturschwankungen ausgesetzt ist. Wir sehen zum Beispiel in Italien, dass bei noch höheren Temperaturen die Bahn da deutlich besser mit Wetterextremen umgeht.
Und insbesondere jetzt so Starkregenereignisse, die Unterspülungen, diese tragischen Todesfälle, die wir jetzt in Baden-Württemberg hatten, das sind alles große Themen im Bereich Verkehr und Klimaschutz.
Frau Piechotta, ich bedanke mich für das Gespräch.