Brüssel. Europa rüstet sich für die schärfsten Asyl- und Migrationsregeln in der Geschichte. Nur noch wenige Monate bleiben, um Grenzen zu sichern, neue Asylzentren aus dem Boden zu stampfen und Personal zu schulen. Im Juni nächsten Jahres startet das reformierte Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). In vielen EU-Staaten, darunter auch in Deutschland, wollen die Regierungen deshalb noch in diesem Herbst beschließen, wie genau sie die neuen Regeln umsetzen werden. Kernelement des großen Asyl- und Migrationspakets: Bereits an den EU-Außengrenzen sollen ankommende Flüchtlinge erfasst und entweder direkt zurückgeschickt oder einem Asylverfahren zugewiesen werden. Wer keine Bleibeperspektive hat, soll gar nicht erst in die EU gelangen.
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Viele Asylverfahren sollen im Rahmen der neuen Migrationsgesetze künftig schneller abgewickelt werden. 30.000 Plätze müssen alle EU-Staaten zusammen für sogenannte Grenzverfahren vorhalten, in eigens dafür eingerichteten Asylzentren. Dort sollen Asylanträge in maximal drei Monaten entschieden werden – vor allem bei Menschen aus Ländern mit sehr niedrigen Anerkennungsquoten oder wenn ein Sicherheitsrisiko besteht. Sind die Plätze belegt, greifen automatisch die normalen Verfahren in herkömmlichen Asylzentren. „Es gibt also keine Überbelegung“, sagt eine Sprecherin der EU-Kommission dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Lager wie im griechischen Moria will Brüssel so verhindern.
Die Zahl der Plätze richtet sich nach den irregulären Grenzübertritten der Vergangenheit in jedem Land. Italien trägt mit rund 8000 Plätzen die größte Last. Deutschland muss 374 Plätze vorhalten – trotz fehlender Außengrenzen. Der Grund: Auch an deutschen Flughäfen und Seehäfen werden jedes Jahr zahlreiche Asylanträge gestellt.
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Bisher gab es an den Flughäfen Berlin-Brandenburg, Düsseldorf, Frankfurt/Main, Hamburg und München nur 144 Plätze. Asylsuchende wurden direkt auf dem Flughafengelände untergebracht. Doch das reicht künftig nicht: „Es werden voraussichtlich zusätzliche Standorte erforderlich und die bestehenden Standorte müssen an die neuen Anforderungen angepasst werden“, heißt es im deutschen Implementierungsplan der neuen EU-Asylgesetze. Er sieht vor, die Kapazitäten an den Flughäfen zu erweitern. Denn während bisher über einen Asylantrag innerhalb von zwei Tagen entschieden werden musste, können die neuen Grenzverfahren bis zu drei Monate dauern. Ein Pilotprojekt an den Flughäfen Frankfurt, Berlin und München soll das neue Verfahren erproben. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auf Bundespolizei und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mehr Arbeit zukommen wird. Auch, weil die Bundesregierung gerne mehr als die 374 Asylverfahren im Schnelldurchlauf abwickeln will.
Die Mitgliedstaaten riskieren Verzögerungen beim Aufbau ihrer Kapazitäten für das Screening und das obligatorische Grenzverfahren, wenn die endgültigen Standorte nicht bald benannt werden.
EU-Kommission in einem Zwischenbericht
Bis April müssen die Mitgliedstaaten Brüssel melden, wo ihre Grenzverfahren stattfinden sollen. „Bislang hat dies noch kein Mitgliedstaat getan“, heißt es in einem Zwischenbericht der EU-Kommission. Sie warnt: „Die Mitgliedstaaten riskieren Verzögerungen beim Aufbau ihrer Kapazitäten für das Screening und das obligatorische Grenzverfahren, wenn die endgültigen Standorte nicht bald benannt werden.“
Lena Düpont (CDU), innenpolitische Sprecherin der EVP-Fraktion im Europaparlament, beschwichtigt: Alle Staaten nähmen ihre Verantwortung ernst, Unterschiede gebe es nur „im Detail und bei der Geschwindigkeit“, sagt sie. Ausschreibungen, Sanierungen und Bauvorhaben bräuchten eben mehr Zeit als juristische Anpassungen.
Tatsächlich plant fast die Hälfte der EU-Staaten neue Aufnahmezentren und erhält Milliardenhilfen aus Brüssel. Vor allem Italien, Ungarn, Spanien und Griechenland müssen Zentren für mehrere Tausend Plätze im Grenzverfahren schaffen. Ob direkt an der Grenze oder weiter im Landesinneren, ist den Regierungen überlassen. „Obwohl die Grenzverfahren in der Regel an der Grenze oder in Transitzonen durchgeführt werden sollten, können die Mitgliedstaaten die Grenzverfahren flexibel an Orten innerhalb ihres Hoheitsgebiets durchführen“, so eine Sprecherin der EU-Kommission. Konkret heißt das: Flüchtlinge, die auf Inseln wie Lampedusa, Lesbos oder Kos ankommen, können für das Grenzverfahren auch auf das Festland gebracht werden.
EU muss Asylversprechen einhalten
Mit schärferen Asylgesetzen will die EU Ordnung schaffen, doch die Umsetzung lässt auf sich warten. Europa muss den Turbo einlegen, um ein erneutes Chaos an den Außengrenzen zu verhindern – ein Kommentar.
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Europas Sozialdemokraten warnen, dass die Umsetzung stockt: „Bei genauerem Hinsehen können auch optimistische Betrachtungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass konkrete Umsetzungsschritte, auch mit Blick auf Zentren für Screening und Grenzschutz, nur sehr langsam voranschreiten“, sagt Birgit Sippel, innenpolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im EU-Parlament. „Zudem werden dabei häufig besondere Schutzbedarfe von alleinreisenden Frauen, Familien und Kindern wenig bis gar nicht beachtet.“
Brüssel betont, auf die Einhaltung von Grundrechten zu pochen. Erstmals sollen EU-Mittel für Rechtsberatung fließen, Mitgliedstaaten müssen Ombudsstellen benennen. „Ab 2026 wird die EU-Asylagentur die Asyl- und Aufnahmesysteme der Mitgliedstaaten überwachen“, fügt eine Kommissionssprecherin hinzu. Werden Vorwürfe laut, dass in einem Asylzentrum Grundrechte verletzt werden, kann die EU-Asylagentur auch Ad-hoc-Untersuchungen durchführen. Werden Kinder und ihre Familien nicht angemessen behandelt, will Brüssel die Grenzverfahren für sie aussetzen. Ob das reicht, ist unklar. Erst in wenigen Monaten zeigt sich, ob Europas neues Asylsystem funktioniert.