.Berlin. Die Huntington-Krankheit verläuft meistens tödlich. Ein Mediziner erklärt, warum es von Nachteil sein kann, die Diagnose zu kennen.
Wir alle haben das Huntington-Gen. Doch bei rund 8.000 bis 12.000 Menschen in Deutschland weist es – laut der Deutschen Huntington-Hilfe – einen Defekt auf. Für sie bedeutet das: Im Laufe ihres Lebens erkranken sie unweigerlich an der Huntington-Krankheit – einer erblichen Erkrankung, die immer tödlich verläuft. Prof. Carsten Saft ist Experte der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und Oberarzt im Huntington-Zentrum NRW in Bochum. Er erklärt, was die Krankheit verursacht und wie man sich auf den Gendefekt testen lassen kann.
Was ist die Huntington-Krankheit?
Saft: Huntington ist eine erbliche, fortschreitende Erkrankung des Gehirns. Betroffene führen zunächst ein völlig normales Leben, doch im Laufe der Jahre treten nach und nach Symptome auf. Die Krankheit verläuft meist über 15 bis 20 Jahre und endet schließlich tödlich, oft nach einer langen Phase der Pflegebedürftigkeit. Die Symptome sind vielfältig. Typisch sind Probleme mit Bewegung und Koordination: Gehen und Schlucken werden schwieriger, Stürze häufen sich. Ein bekanntes Merkmal sind unwillkürliche, zuckende Bewegungen. Daneben wird die Feinmotorik zunehmend eingeschränkt, sei es bei alltäglichen Tätigkeiten wie dem Ankleiden oder dem Schließen von Knöpfen.
Neben körperlichen Beschwerden könnten auch psychische Veränderungen wie Depressionen, Reizbarkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten auftreten. Auch das Gedächtnis leidet, insbesondere das Kurzzeitgedächtnis und die Fähigkeit zu planen und zu organisieren.
Prof. Carsten Saft ist Oberarzt im Huntington-Zentrum NRW in Bochum.
© RUB | Tim Kramer
Huntington-Experte: „Meine älteste Patientin ist 94 Jahre alt.“
Was löst die Huntington-Krankheit aus?
Saft: Huntington wird autosomal-dominant vererbt – das heißt, wenn ein Elternteil betroffen ist, hat jedes Kind unabhängig vom Geschlecht ein 50-prozentiges Risiko. Die Ursache ist ein Defekt im sogenannten Huntington-Gen. Dieses Gen haben wir alle. Bei der Huntington-Krankheit wiederholt sich dort eine bestimmte Abfolge von DNA-Bausteinen ungewöhnlich oft: Gesunde Menschen haben in der Regel 10 bis 25 dieser Wiederholungen. Bei Huntington-Patienten sind es deutlich mehr. Ab etwa 36 Wiederholungen steigt das Erkrankungsrisiko, ab 40 gilt es als sicher. Wer den Befund erhält, wird im Laufe des Lebens auch erkranken.
Im Durchschnitt zeigen sich die ersten Symptome zwischen 35 und 50 Jahren.
Saft: Huntington kann in jedem Alter auftreten. In der Kinderklinik behandeln wir auch erkrankte Kinder, das ist allerdings sehr selten. Meine älteste Patientin ist 94 Jahre alt.
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Wie kann ich herausfinden, ob ich den Gendefekt habe?
Saft: Seit der Entdeckung des Gens stellt sich die Frage: Will man Jahrzehnte vor Ausbruch der Krankheit überhaupt wissen, dass man erkranken wird? Das ist eine sehr persönliche und schwierige Entscheidung. Jeder hat das Recht, es nicht zu erfahren. Wer sich testen lassen möchte, beginnt mit einer Beratung bei einem Humangenetiker. Danach folgt eine mindestens einmonatige Bedenkzeit. Anschließend sollte es eine psychiatrisch oder psychotherapeutische Vorstellung geben, um zu klären, ob man stabil genug ist, das Ergebnis zu erfahren. Erst dann wird Blut abgenommen. Nach drei oder vier Wochen liegt das Ergebnis vor. Bei einem dritten Termin kann man sich entscheiden, den Befund zu öffnen. Manche Menschen sagen auch an diesem Punkt dann: „Ich will es doch nicht wissen.“
Huntington-Krankheit: Fortschritte in der Forschung
Wie reagieren Menschen, wenn sie erfahren, dass sie an Huntington erkranken werden?
Saft: Sehr unterschiedlich. Manche bereiten sich ihr ganzes Leben darauf vor, weil sie wissen, dass es die Krankheit in der Familie gibt. Es ist eine schwierige Nachricht und sicherlich normal, dass man damit erstmal zurechtkommen muss. Ich erinnere mich an eine Dame, die sich jahrelang keinen Weihnachtsbaum mehr gekauft hat, weil sie schon vor dem Test davon überzeugt war, dass sie bald sterben würde. Dann hat sie erfahren, dass sie gesund ist. Wer sich ein Leben lang auf eine Krankheit eingestellt hat, vielleicht keine Partnerschaft eingegangen ist oder berufliche Pläne aufgegeben hat, steht plötzlich vor einer ganz neuen Realität.
Warum ist es so schwierig, ein Heilmittel oder ein Medikament zu finden?
Saft: Das gilt leider für fast alle neurodegenerativen Krankheiten. Nervenzellen im Gehirn sind schwer zu reparieren. Dennoch tut sich viel in der Forschung. Wir glauben, dass Huntigton von den unbehandelbaren Krankheiten eine der behandelbarsten sein müsste. Wir kennen mit dem Gendefekt ja die Ursache. Theoretisch könnte man dort ansetzen, etwa mit der sogenannten Gen-Schere, doch diese Technik ist noch unsicher. Sie schneidet manchmal an der falschen Stelle und es ist schwierig, sie in die Gehirnzellen hineinzubringen. Häufig braucht man dafür Viren als eine Art „Trojanisches Pferd“, das ist kompliziert und invasiv.
Darum gibt es parallel andere Ansätze: Statt das Gen selbst zu verändern, versucht man, Botenstoffe oder Eiweiße zu blockieren, die durch das defekte Gen entstehen. Ob das den Krankheitsverlauf bremst, muss sich in größeren Studien beweisen. Durch Beobachtungsstudien mit vielen Betroffenen gewinnen wir wertvolle Erkenntnisse über den natürlichen Verlauf der Krankheit. Auch das bringt uns weiter und führt zu weiteren möglichen Behandlungsansätzen.
Sind Sie optimistisch, dass es in naher Zukunft Therapien gegen die Krankheit geben wird?
Saft: Wir haben Hinweise, dass es in die richtige Richtung geht. Selbst eine spürbare Verzögerung wäre ein wichtiger erster Schritt.
Arzt erklärt: Was Huntington-Betroffene für ihre Gesundheit tun können
Was können Betroffene tun, um die Krankheit hinauszuzögern?
Saft: Körperliche und geistige Aktivität scheinen hilfreich zu sein. Menschen, die insgesamt aktiver waren, erkranken im Schnitt später. Ob das Ursache oder Folge ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, aber vieles spricht dafür, dass Aktivität hilft. Es gibt auch Studien zur Ernährung, zum Beispiel zur mediterranen Kost. Letztlich hat sich das meiste bisher aber nicht eindeutig bestätigt, sodass wir keine klaren Aussagen treffen können.
Warum fällt es vielen Familien oder Betroffenen schwer, offen über Huntington zu sprechen?
Saft: Das hat sich durch die Arbeit der Selbsthilfegruppen der Deutschen Huntington-Hilfe bereits verbessert. Man versteht inzwischen, dass es eine Erkrankung ist und niemand etwas dafür kann, wenn er sich auffällig bewegt. Bewegungsstörungen oder Probleme im Beruf fallen oft zuerst anderen auf. Betroffene fragen sich dann, warum sie kritisiert werden oder fühlen sich gemobbt. Darum ist es wichtig, offen zu sprechen. Symptome wie Reizbarkeit oder Depressionen gehören zur Erkrankung und lassen sich behandeln. Entscheidend ist, dass man sich Hilfe holt – am besten in einem spezialisierten Zentrum.