Kiel. Das Beste am Arztbesuch? Für viele ist es das Blättern in bunten Klatschmagazinen im Wartezimmer. Doch dieser Service droht auszusterben. Vor allem Fachärzte verbannen die Hefte mehr und mehr aus ihren Praxen. Was sind die Gründe? Unterwegs mit einem Zusteller des größten deutschen Lesezirkel-Unternehmens „Leserkreis Daheim“, das 1907 in Kiel gegründet wurde.
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Der Mann ist ein echter Frühaufsteher. Seit 4.30 Uhr ist Dieter Reimann aus Havighorst (Kreis Plön) schon unterwegs. Nach dem Aufstehen geht’s erst einmal zum Zentrallager von „Leserkreis Daheim” nach Neumünster. Dort belädt der 60-Jährige sein Dienstfahrzeug.
Unterwegs mit Dieter Reimann: Der Alltag eines Zeitschriften-Zustellers
Mehr als 200 Zeitschriften von der „Gala” über den „Spiegel” bis zum „Micky Maus Magazin” wuchtet Reimann in seinen elektrobetriebenen Kastenwagen. 72 Anlaufstellen wird er an diesem Tag in Kiel und dem Umland abklappern.
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„Jeden Tag habe ich eine feste Route“, sagt Reimann. Sein Gebiet umfasst Rendsburg, Neumünster, Preetz und Nortorf sowie die Randbereiche. Rund 700 Kilometer kommen wöchentlich zusammen. „Seit fast 30 Jahren mache ich das.“
Smartphones statt Zeitschriften: Die neue Realität in Wartezimmern
Dieter Reimann rechnet damit, dass sein Job „über kurz oder lang“ aussterben wird. „Die jungen Leute lesen doch gar nicht mehr“, sagt er. Das Smartphone ersetze die Zeitschriften zunehmend.
Bei seinen Kunden an diesem Tag ist das noch anders. Reimann stoppt bei zwei großen Augenarztpraxen in der Wik und in Düsternbrook, bei Zahnärzten und dem Uniklinikum. Sobald er die neuen Zeitschriften mit den blauen Schutzumschlägen des Lesezirkels auf den Tisch im Wartebereich gelegt hat, greifen die Patienten zu.
„Das mache ich bei meinen privaten Arztbesuchen auch so“, sagt er schmunzelnd. Er liebe vor allem die „Bunte“. Klatsch und Tratsch helfe ganz wunderbar dabei, lange Wartezeiten zu überbrücken.
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Früher, so erzählt er, habe es mehr Kollegen in seiner Firma gegeben. Heute sind es 25. „Viele Bezirke wurden zusammengelegt. Das heißt dann Optimierung.“ Zum Glück sei niemandem gekündigt worden. Stattdessen seien die älteren Semester in den Ruhestand gegangen. „Der Jüngste bei uns ist 30″, erzählt Reimann. „Ob der den Job noch bis zur Rente machen kann? Ich glaube nicht.“
„Leserkreis Daheim“ aus Kiel im Wandel: Herausforderungen und Chancen
Reimanns Boss von „Leserkreis Daheim” ist Roman Schwarz. Der 62-Jährige ist Filialleiter im Norden und sieht das etwas differenzierter. „Wir bedienen deutschlandweit über unsere 28 Filialen aktuell wöchentlich rund 80.000 Kunden”, sagt Schwarz. Vor zehn Jahren seien es rund 65.000 gewesen und auf diesem Level lag das Unternehmen auch bis vor Kurzem noch.
Wir bedienen deutschlandweit über unsere 28 Filialen aktuell wöchentlich rund 80.000 Kunden.
Roman Schwarz
Filialleiter vom „Leserkreis Daheim“
Wie das Plus zum Wandel in deutschen Wartezimmern passt? Vor allem Zukäufe von anderen Lesezirkel-Unternehmen wie der Nummer zwei auf dem Markt, der „Medienpalette“ mit Sitz in Hamm, hätten die Zuwächse möglich gemacht, sagt Schwarz. Aber auch er sieht, dass Arztpraxen mehr und mehr auf den Service von „Leserkreis Daheim“ verzichten. Konkrete Zahlen nennt er aus Wettbewerbsgründen nicht.
„Ich bedauere den Rückgang sehr“, sagt Schwarz. „Ich würde mir wünschen, dass die Patienten viel häufiger ihrem Arzt die Rückmeldung geben, dass sie den Lesestoff vermissen.“
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Corona und die Angst vor Zeitschriften: Ein Missverständnis
Die Coronakrise hat aus Sicht von Zusteller Reimann bei dem Schwund wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Anfangs habe es geheißen: Das Virus könne auch über Zeitschriften übertragen werden. Inzwischen weiß man: Das ist falsch. Doch eine Grundangst sei bei vielen geblieben.
Auf Nachfrage bestätigt Prof. Iris Freya Chaberny vom Kieler Uniklinikum, dass diese Angst unbegründet ist: „Von den Zeitschriften geht aus meiner Sicht so gut wie absolut keine Gefahr aus.“ Die Medizinerin leitet das campusübergreifende Institut für Krankenhaus- und Umwelthygiene am UKSH.
Wie Zeitschriften nachhaltig genutzt werden: Das Prinzip des Lesezirkels
Im Wagen von Zusteller Reimann geht es unterdessen zu, wie bei „Bäumchen wechsel Dich”. Die neuesten Titel – derzeit gibt es in Deutschland 1300 verschiedene Zeitschriften – trägt der 60-Jährige in Praxen und Friseursalons. Von dort bringt er die ausgelesenen Exemplare wieder mit.
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Oft landen die später noch bei weiteren Kunden, die so günstig an Lesestoff kommen. „Ein tolles, nachhaltiges Prinzip“, sagt Reimann. Nach vier Wochen sei dann aber für jedes Heft endgültig Schluss – es landet im Recycling.
Technologie und Terminmanagement: Neue Herausforderungen für Lesezirkel
Bei seinen Besuchen in den Arztpraxen sieht Reimann zunehmend moderne Technik. „Viele haben Monitore im Wartebereich, über die Werbefilme der Praxis eingespielt werden.“ Dann dächten viele: Ein Zeitschriften-Abo ist jetzt nicht mehr nötig.
Zwei weitere mögliche Gründe für den Rückgang fallen dem Zusteller beim Überlegen noch ein. Erstens: ein besseres Terminmanagement der Ärzte, das Wartezeiten gering hält. Zweitens: eine zunehmende Zentralisierung von Praxen. Aus sechs kleinen Praxen werde häufig eine Großpraxis. „Das bedeutet für uns: Aus sechs Zeitschriften-Abos wird dann eins.“
An diesem Tag jedoch ist die Lesezirkel-Welt noch in Ordnung. Reimann liefert ein Zeitschriften-Paket nach dem anderen ab und wird überall freudig begrüßt. Von Personal und Patienten gleichermaßen. Der neueste Klatsch und Tratsch aus aller Welt scheint hier noch hochwillkommen.
KN