In Russland beginnt die Schule Anfang September, viele Schüler und Schülerinnen sind jetzt noch in Ferienlagern. Doch Baden und Basteln sind mancherorts weniger angesagt als Patriotismus und Patronen.
Feldtraining am Don im Süden Russlands bei Rostow, die ukrainische Grenze ist keine 100 Kilometer entfernt. 83 Kinder im Alter von acht bis 17 Jahren sind dabei. Ein Team der Nachrichtenagentur Reuters konnte dort drehen.
Vorwärts robben an Land, rückwärts robben im Wasser. Manch einer trägt ein echtes, andere ein Spielzeuggewehr. Zwei Mädchen sind ausgelaugt: „Wir haben den Geländelauf geschafft. Cool. Aber ich bin fast gestorben. Wir haben das drei mal durchgemacht!“
Viereinhalb Millionen Kinder haben diesen Sommer in Russland eines der 40.000 Ferienlager besucht. Laut Regierung mit dabei: 85.000 Kinder aus den neuen russischen Gebieten, wie der von Russland besetzte Osten der Ukraine genannt wird. Und 180.000 Kinder von Militärs, die gegen die Ukraine kämpfen.
Da in Russland „nationaler Widerstandskraft“ geschult werden soll, liegen „Ferienspiele“ im Trend, bei denen Kinder an militärischen Schnupperstunden teilnehmen. Denn in Zeiten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist militärischer Nachwuchs gefragt.
In Zeiten von Russlands Krieg ist militärischer Nachwuchs gefragt. Und so werden auch Kinder in Ferienlagern auf das Militär vorbereitet.
„Unser Vaterland braucht Verteidiger“
Alexander Schopin hat in einer Marinebrigade gedient und wurde im Krieg gegen die Ukraine verwundet. Während er auf eine Operation wartet, trainiert er die Kinder. „Ich gebe gern meine Erfahrung an die Kinder weiter. Das Training schweißt sie zu einer Familie zusammen. Meine mittlere Tochter ist hier, und ihr gefiel es gleich, auch wenn es hart für sie war“, sagt Schopin. „Sie mag es, im Team zu sein und niemanden zurückzulassen.“
„Fahnenträger, haltet Eure Flaggen höher!“ ruft ein Ausbilder. Dann noch ein paar Liegestütze. David Beschetadse, Kadettenschüler der Don-Kosaken-Militärschule „Zar Alexander III.“ im Gebiet Rostow, resümiert: „Der Geländelauf hat mir geholfen, meine Grenzen zu testen und zu wissen, wie groß meine Willenskraft ist. Denn unser Vaterland braucht Verteidiger!“
Anton geht auf die gleiche Schule: „Warum ich hier bin? Weil ich meine Zukunft mit dem Militärdienst verbinden will. Ich will meinem Land dienen, meiner Sache bis zum Ende treu bleiben.“
„Patriotisches Erziehung“ sei einige Generationen lang vernachlässigt worden, meint einer der Ausbilder. Das solle nun nachgeholt werden.
„Die patriotische Erziehung nachholen“
Dmitri Tischkow, Chef eines regionalen Kosaken-Verbandes, trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Patriot“ und sagt: „Wir haben einige Generationen vernachlässigt. Jetzt wollen wir die patriotische Erziehung nachholen und möglichst viele Jungs und Mädchen erreichen. Sie brauchen das, denke ich.“
Fast 40 Prozent der Russen bezeichnen sich in einer neuen Umfrage des Allrussischen Meinungsforschungszentrums als „besonderes Volk“ mit spirituellen Werten und Patriotismus. Vor allem die Älteren denken so.
Indoktrination ab dem Kindergarten
„Kolonne, seid ihr bei guter Gesundheit und frohen Mutes?“ – „Ja, sind wir!“, erschallt die Antwort. Die unabhängige Kinderrechtsorganisation Ne Norma kritisiert dieses Training, genau wie die Unterweisung an Waffen oder den Bau von Drohnen an Schulen, als Indoktrination und Propaganda.
Ne Norma prangert auch an, dass ein „Gespräch über das Wichtige“ genannter Propaganda-Unterricht ab September in russischen Kindergärten eingeführt werden soll. In den Schulen gehört er bereits seit Herbst 2022 zum Lehrplan. Die Indoktrination für Dreijährige soll nun zuerst in Moskau, im Ural und im äußersten Nordosten Russlands, in Tschukotka, beginnen. Nach und nach sollen andere Regionen folgen, darunter auch die besetzten ukrainischen Gebiete. Russlands Präsident Wladimir Putin persönlich hatte diesen Vorschlag letztes Jahr gemacht.
Im Camp am Don hängen die Kinder indes buchstäblich an den Ausbildern, umarmen sie. Der Instrukteur für taktische Medizin, Wladmir Janenko, sagt: „Wir behandeln sie wie unsere eigenen Kinder. Hier erfahren sie Verständnis, lernen etwas. Patriotisches Training ist sehr wichtig. Sie wollen nicht irgendwo auf der Straße abhängen. Das hier ist mehr Spaß für sie.“
Mutter Natalja umarmt ihren Sohn Iwan, der in Tarnkleidung vor ihr steht. „Wir begleiten unsere Kinder, helfen zum Beispiel in der Küche. Die Kinder sind den ganzen Tag beschäftigt. Abends sind sie müde aber glücklich. Wenn wir fragen, ob sie aufgeben wollen, rufen sie: Auf keinen Fall! Und dann machen sie am nächsten Tag mit neuen Kräften weiter.“
Woran er sich erinnern wird? Der achtjährige Iwan zögert nicht: „Wie wir Handgranaten geworfen und mit Platzpatronen geschossen haben.“