Während in Deutschland gerade der Kulturpass, der zu erhöhten Buchkäufen der 18-Jährigen führte, begraben wird, lassen Nachrichten aus dem Nachbarland Dänemark aufhorchen: Dort soll die Mehrwertsteuer auf Bücher abgeschafft werden, mit dem Hinweis, die Lesefreude und damit die Lesefähigkeit der Dänen zu steigern. Eine noble Tat, die dem dänischen Buchmarkt durchaus die ein oder andere Krone zukommen lassen wird. In Deutschland wurde der Mehrwertsteuersatz für Bücher 1968 ermäßigt – die Krise des Lesens hat diese Maßnahme nicht aufhalten können, und es ist fraglich, ob die völlige Abschaffung der Mehrwertsteuer diesen Effekt hätte.
Lesen ist eine Kulturtechnik, die Freiheit, Gleichheit und Demokratie befördert hat
Denn es geht ja nicht darum, stockende Buchverkäufe anzukurbeln. Es geht um nichts weniger, als den Erhalt einer Kulturtechnik, die eng verbunden mit Aufklärung, Freiheit, Gleichheit und Demokratie ist, und deren Verlust verheerende Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung ebenso wie den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat. Lesen bedeutet –neben Amüsement und Ablenkung – eine Vielfalt an Denkprozessen. Wer liest, eignet sich Wissen an, erkennt Zusammenhänge, bezieht Stellung, entwickelt Empathie, erschafft sich eigene Bilder zu dem Gelesenen. Fähigkeiten, die uns individuell bereichern und die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen.
Studenten bevorzugen inzwischen Kurzzusammenfassungen über ChatGTP
Und doch: Rund ein Viertel aller Grundschüler können am Ende der vierten Klasse nicht sinnentnehmend lesen, verstehen also gar nicht, was sie vor Augen haben. Und mittlerweile melden auch die Universitäten eine erschreckende Ignoranz dem Lesen gegenüber. Längere Texte, Fachbücher, Literatur gar – Fehlanzeige bei den Leuten, die zur geistigen Elite gehören wollen. Sie bevorzugen Kurzzusammenfassungen über ChatGPT. Es zeigt sich also, dass die fehlende Lesefähigkeit nicht nur auf fehlende Bildungsgerechtigkeit und die Herausforderungen einer Zuwanderungsgesellschaft zurückzuführen sind, sondern sogar an der Spitze der Bildungspyramide angekommen sind.
Das Problem zieht also weitere Kreise. Umso weniger verständlich ist es, dass der Aufschrei über die fehlende Lesekompetenz immer nur temporär ist, nach der Vorstellung von alarmierenden Studien. Wie wirksam sind wohlmeinende Initiativen wie der „Nationale Lesepakt“ oder „Lesestart 1-2-3“ mit kostenlosen Buchgeschenken bei Kinderärzten und Bibliotheken? Welche Priorität haben Leseförderung, Spracherwerb für Zugewanderte und Chancengleichheit in der Bildungspolitik? Wie präsent ist die Lesekrise tatsächlich in der Öffentlichkeit?
Lesen ist nicht nur eine bildungsbürgerliche Attitüde
Es ist ein Problem für die ganze Gesellschaft, deshalb sollte es auch als solches in der breiten Gesellschaft wahrgenommen werden. Lesen ist nicht nur eine bildungsbürgerliche Attitüde, sondern eine Schlüsselkompetenz, auf die niemand verzichten kann. Das muss Eltern bewusst sein, die schon früh den Grundstein für den späteren Leseerfolg ihrer Kinder legen können. Das muss lesefaulen Schülern erklärt werden, die sich um die Schullektüre drücken. Dass jeder, aber auch wirklich jeder lesen lernen kann, dafür muss die Politik die Mittel und Methoden in den Schulen bereitstellen. Und wir, jeder einzelne, müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Errungenschaft, alles Wissen dieser Welt digital und schnell abrufen zu können, zwar ein Fortschritt ist, dass es aber das vertiefte, konzentrierte Lesen nicht ersetzen kann. Weil dies die Voraussetzung dafür schafft, Gegenwart und Zukunft mit ihren komplexen Herausforderungen zu verstehen und zu gestalten.
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Birgit Müller-Bardorff
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