Die Verkehrspolitik zählt zu den zentralen Konfliktfeldern Berlins in der Gegenwart. Und bei der Verlängerung der Stadtautobahn prallen die Ansichten besonders heftig aufeinander. Das zeigt sich wieder zur Eröffnung des 16. Bauabschnitts der A100 an diesem Mittwoch.
Die widerstreitenden Positionen zeigten sich in den vergangenen Tagen auch in Reaktionen von Leserinnen und Lesern des Tagesspiegel-Newsletters Checkpoint. „Mit der A100-Verlängerung bis Treptow verhält es sich wie mit dem kürzlichen Aufbäumen von Frau Giffey für die SPD-Spitzenkandidatur – sie wird nur mehr Chaos als Entlastung stiften“, schrieb Philipp Schultheiß aus Neukölln. „Weder Elsenbrücke noch Alt-Treptow können das neue Verkehrsaufkommen auffangen – Mittel zur Verkehrsführung im Kiez fehlen.“
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Leserin Helga Kohnen-Müller aus Schmargendorf stellte auch die Frage nach den Alternativen. „Ich bin für die A100, das Auto ist nicht wegzureden, der öffentliche Nah- und Fernverkehr funktioniert nicht so, dass die Bürger auf das Auto verzichten können/würden“, schrieb sie dem Checkpoint. „Aber sie macht nur dann richtig Sinn, wenn – und das hätte schon längst passieren müssen – sie bis zum Anschluss Pankow fertig und nutzbar ist.“
„Wir sehnen die Eröffnung inzwischen herbei“
Wie sehr die Beurteilung der Autobahn-Verlängerung von den persönlichen Lebensumständen abhängen kann, zeigte die Zuschrift von Checkpoint-Leser Jan Rosin. „Eigentlich war – und bin – ich gegen den Ausbau der A100“, berichtete er aus Friedrichshain. Vor einem Jahr sei er mit seinem Freund in den Rudolfkiez gezogen, „gar nicht so weit entfernt von der neuen Auffahrt auf die A100“.
Zuvor habe er 14 Jahre in Neukölln gewohnt und die Baustelle erlebt. „Verständnis dafür hatte ich nie“, schrieb Rosin. „Doch tatsächlich sehnen wir die Eröffnung inzwischen herbei, weil wir dadurch schneller auf die Autobahn kommen und uns die Ampeln und Staus am Dammweg ersparen.“ Denn neuerdings besitzen die beiden auch ein Wochenendhaus im Osten Brandenburgs.
Rosins Fazit: „Hätte ich auch ohne diesen Abschnitt gut weiterleben können? Mit Sicherheit ja. Sind 720 Millionen Euro dafür gerechtfertigt, dass ich schneller an meinem Wochenendhaus bin? Mit Sicherheit nein. Aber dass ich mich über die Eröffnung des 16. Abschnitts der A100 einmal freuen würde, hätte ich beim Baustart vor zwölf Jahren nicht gedacht.“
„Man rechnet nicht mehr damit, die Eröffnung solcher Großprojekte zu erleben“
Leser Christian Quellmalz schwankt zwischen Begeisterung und Sarkasmus. „Als Friedrichshainer, der gefühlt wöchentlich über die A13 nach Sachsen fährt, freue ich mich auf den Anschluss der A100 an den Treptower Park und bin sehr gespannt, ob es eine echte Verbesserung und Erleichterung für mich sein wird“, schrieb er dem Checkpoint. „Man rechnet in meinem Alter (45 Jahre) ja nicht mehr ernsthaft damit, die Eröffnung solcher Großprojekte wie den Autobahnanschluss der A100 oder auch die Fertigstellung der Dresdner Bahn noch zu mitzuerleben und ist dann um so überraschter, wenn’s dann plötzlich (mit oder ohne Feier) passiert ist.“
Seine Botschaft an die Politik: „Weiter so! Auch beim ,Großprojekt’ Umbenennung der Mohrenstraße hat es ja nun ganz überraschend geklappt. Es geht bergauf! Wahnsinn!“
Linke: „Das ist die absurdeste Straße Deutschlands“
Scharfe Kritik kam vor der Eröffnung von der Opposition. „Das ist die absurdeste Straße Deutschlands. Und die teuerste, mit 720 Millionen Euro allein für den 16. Bauabschnitt“, sagte der Vorsitzende der Linke-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Tobias Schulze. „Das ist Beton gewordene Ideologie von vorgestern.“ Andere Metropolen in Europa würden sich „auf den Weg machen zu grünen Metropolen, sich zu entschleunigen, nahe Wege zu haben“. Berlin mache das Gegenteil. Angesichts auch von Hitze und Klimawandel werde keine Stadt gebraucht, die „zubetoniert“ werde.
Wir wollen keinen Kulturkampf ums Auto. Den führen die Konservativen, wir nicht.
Tobias Schulze, Vorsitzender der Linke-Fraktion im Abgeordnetenhaus
Schulze forderte eine Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV), von Fuß- und Radverkehr. „Wir wollen keinen Kulturkampf ums Auto. Den führen die Konservativen, wir nicht.“ Es gebe Leute, die aus Gründen ein Auto fahren müssten, etwa Handwerker, Beschäftigte von Pflegediensten, Schichtarbeiter. Und es gebe Leute, die Alternativen nutzen könnten. „Man muss die Alternativen stärken. Darum geht es.“
Grüne: „So unbeliebt, dass sie versteckt im Hotel eröffnet werden muss“
Nach zwölf Jahren Bauzeit sollen am Mittwoch die ersten Autos über den neuen, 3,2 Kilometer langen Abschnitt der A100 rollen. Mit einem Festakt im Neuköllner Hotel Estrel wird die Verlängerung der Stadtautobahn vom Dreieck Neukölln bis zur Anschlussstelle Treptower Park für den Verkehr freigegeben. Erwartet werden dazu Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (beide CDU).
Werden am Mittwoch am Festakt im Hotel Estrel teilnehmen: Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (beide CDU, von links).
© dpa/Jens Kalaene
„Eine Autobahn, die so unbeliebt ist, dass sie versteckt im Hotel eröffnet werden muss, sagt alles“, kommentierte Antje Kapek, verkehrspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, die Freigabe. „Wer Milliarden verbaut und sich dann nicht einmal traut, die Eröffnung öffentlich zu feiern, weiß selbst, dass dieses Projekt gegen den Willen der Anwohnenden stattfindet.“ Es müsse „endgültig Schluss sein mit den Verlängerungsphantasien“, forderte Kapek. Der Senat müsse nun „den Schutz der angrenzenden Wohngebiete sicherstellen, Ausweichverkehre verhindern und den Menschen Vorrang vor Autos geben“.
Bündnis gegen A100: Bürgerbeteiligung nur „Alibi“
Das Aktionsbündnis „A100 stoppen“ beklagte auch eine unzureichende Bürgerbeteiligung. In der jahrzehntelangen Planungsphase habe es lediglich im Jahr 2009 eine formelle Beteiligungsphase mit mehr als 3000 Einwendungen gegeben, die jedoch wirkungslos geblieben seien.
„Die Geschichte des 16. Bauabschnitts der A100 ist eine Chronik der Scheinbeteiligung“, kommentierte der Sprecher des Bündnisses, Tobias Trommer, die Eröffnung am Mittwoch. „Die Weichenstellungen erfolgten schon in den 1990er Jahren – ohne dass die Betroffenen mitreden konnten. Was dann an Bürgerbeteiligung stattfand, war nicht mehr als ein Alibi.“ Stattdessen würden nun Stadtviertel gespalten und Lebensqualität zerstört.
Unternehmensverbände: „Meilenstein für die Hauptstadt“
Ganz andere Worte kamen aus der Wirtschaft in der Region. Von einem „Meilenstein für die Hauptstadt“ sprach der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg (UVB), Alexander Schirp. „Endlich bekommen die Industrie- und Gewerbestandorte im Osten Berlins den dringend benötigten Rückenwind.“ Die angrenzenden Stadtviertel würden „vom Durchgangsverkehr erheblich entlastet“, der Flughafen BER sowie die Zentren Frankfurt (Oder) und Dresden seien fortan besser erreichbar. Schirps Prognose: „Die zunehmende Elektromobilität wird dafür sorgen, dass die Emissionen der Autobahn geringer ausfallen als erwartet.“
Erst wenn auch der 17. Bauabschnitt fertiggestellt ist, kann die Verlängerung der Autobahn ihr volles Potenzial entfalten.
Alexander Schirp, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg (UVB)
Der Wirtschaftsvertreter forderte, auch an der weiteren Verlängerung der Stadtautobahn nach Norden festzuhalten. „Am Weiterbau der A100 führt nun kein Weg vorbei“, sagte Schirp. „Erst wenn auch der 17. Bauabschnitt fertiggestellt ist, kann die Verlängerung der Autobahn ihr volles Potenzial entfalten.“ Vorbereitung und Bau müssten „mit hohem Tempo weitergehen“, zumal der Bund den Großteil der Kosten übernehme. „Wer das Projekt als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet, koppelt sich von der Realität des Verkehrs in der Großstadt ab“, sagte Schirp weiter. Transport und Logistik seien zum großen Teil auf die Straße angewiesen. Das sichere letztlich Wohlstand und Arbeitsplätze.
IHK fordert „geschlossenen Straßenring“
„Der 16. Bauabschnitt der A100 ist ein spürbarer Gewinn für Berlin“, teilte Manja Schreiner, Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin, mit. Doch der Ausbau dürfe nicht „auf halber Strecke“ enden. „Ein geschlossener Straßenring würde die Innenstadt spürbar vom Durchgangsverkehr entlasten“, sagte Schreiner, die von April 2023 bis April 2024 auch in anderer Funktion mit dem Projekt befasst war – als von der CDU nominierte Verkehrssenatorin.
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Schreiner forderte nicht nur, die Planung für den 17. Bauabschnitt voranzutreiben. „Der gleichzeitige Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ist unverzichtbar, um vor allem den privaten Autoverkehr zu reduzieren“, teilte die IHK-Hauptgeschäftsführerin ebenfalls mit. „Für den Wirtschaftsverkehr, der die Versorgungssicherheit und das Wachstum der Stadt gewährleistet, sind funktionierende Straßen unerlässlich.“ (mit dpa)