Braunschweig. Es war einer dieser Pokalabende, die sich von selbst erzählen: Flutlicht, ein enger Kessel an der Hamburger Straße, ein euphorischer Zweitligist, ein stolpernder Titelverteidiger – und am Ende Regen zum Elfmeterschießen, als hätte jemand die Dramaturgie bestellt. Der VfB Stuttgart überstand das alles, 4:4 nach 120 Minuten, 11:10 vom Punkt. Dass der Held am Schluss Alexander Nübel hieß, ausgerechnet jener Torwart, der die Geschichte mit einem Fehler angeschoben hatte, macht den Abend komplett.
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Sebastian Hoeneß hatte vorab alles benannt, was in den vergangenen Tagen schief gelaufen war: mangelnde Konsequenz in beiden Strafräumen, zu wenig Körpereinsatz, zu wenig Kälte. Der Plan für Braunschweig klang nüchtern und richtig: die Räume vor der Eintracht-Abwehr bespielen, hoch verteidigen, früh attackieren, Momente nutzen. Dazu fünf Änderungen in der Startelf. „Wir sind der Titelverteidiger, das wollen wir so lang wie möglich bleiben“, sagte Hoeneß. Ein Satz mit Anspruch. Und ein Versprechen, das die Mannschaft zunächst nicht einlösen konnte.
Nübel wackelt, Braunschweig wittert
Die ersten Szenen gehörten dem VfB, eine Führich-Flanke, Undav verpasst – ein guter Anfang. Dann die sechste Minute, als Yardimci Nübel aggressiv anläuft und der Keeper nicht ganz wach wirkt. Zwei Minuten später passiert, was passieren kann, aber nicht passieren darf: Sven Köhler zieht aus 30 Metern ab, Nübel hat beide Hände am Ball – und doch ist er drin. 0:1. „Das war ein sehr bescheidener Start, sehr hart für die Mannschaft, wir mussten ein bisschen schlucken“, sagte Nübel später in der ARD. Es war der Einstieg in einen Abend, der die Stuttgarter Nerven bis zum Zerreißen beanspruchen sollte.
Der Titelverteidiger antwortete immerhin schnell: Demirović wuchtete eine Mittelstädt-Flanke an den Innenpfosten und ins Tor (12.). Das 1:1 nahm den Lärm aus dem Stadion – aber nur kurz. Weil Stuttgart danach wieder tat, was zuletzt zu oft zu sehen war: Tempo rausnahm, Konzentration verlor, die Kontrolle verschenkte. Die linke Seite mit Mittelstädt/Führich blieb die verlässlichste Quelle, rechts mit Tomás/Assignon ging fast nichts. Braunschweig störte mutig, stellte das Zentrum zu, zog dem sonst so sauberen VfB-Aufbau die Stecker.
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Nach der Pause griff das Spiel das Muster wieder auf: Eintracht lief, VfB wankte. Erst um die Stunde herum gewann Stuttgart über längere Pass-Stafetten ein wenig Ruhe zurück – und ging prompt in Führung: Wieder war es Demirović, der nach Vorarbeit von Führich und Stiller zum 2:1 abschloss (60.). Es war genau der Angriff, den Hoeneß meint, wenn er von Konsequenz spricht: Tempo über links, klare Entscheidung im Strafraum. Und doch: Der vermeintliche Wendepunkt blieb ein Zwischenton.
Hoffnungsschimmer – und Rückfall
Denn Stuttgart fiel zurück in Passivität, die Linien wurden zu tief, die Abstände zu groß. Di Michele Sanchez roch die Schwäche, traf aus spitzem Winkel wuchtig ins kurze Eck zum 2:2 (77.), später gar zum 3:2 (85.). Plötzlich stand der Titelverteidiger an der Kante zur Blamage – und das Stadion war wieder ein Lautsprecher. Dass die Stuttgarter nicht fielen, lag an einem Joker: Nick Woltemade rettete mit dem 3:3 in der 89. Minute. Und dass sie das Spiel nicht noch in der Nachspielzeit gewannen, lag an Demirović, der aus acht Metern die Entscheidung vergab (90.+5).
Verlängerung im Ausnahmezustand
Die Overtime begann, wie ein solcher Abend beginnen muss: kurios. Tiago Tomás, bis dahin blass, jagte den Ball scharf durch den Fünfmeterraum, Ba fälschte ins eigene Tor ab – 4:3 (92.). Anstelle der Erlösung folgte die nächste Volte: Frenkert köpfte die Latte (99.), Conteh traf zum 4:4 (104.), und Nübel verhinderte kurz vor der Pause der Verlängerung das 4:5 mit einer Parade gegen eben jenen Conteh (105.+3). Es gab jetzt kaum noch Struktur, nur noch Wucht, Wille und Müdigkeit. In den letzten zehn Minuten presste Stuttgart, als ließe sich das Elfmeterschießen wegdrücken. Es ließ sich nicht.
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Pünktlich zum Shootout setzte der Regen ein – die höchste Form von Pokal-Kitsch. Und plötzlich kippte die Erzählung des Abends. Nübel, der Patzer vom Anfang, wurde zum Taktgeber. Er hielt den zweiten Braunschweiger Elfmeter (Johan Gómez) und auch den dritten (Max Marie). Doch auch Stuttgart streute Fehler ein: Chema Andrés verschoss, Zagadou setzte seinen Versuch vorbei. Nach je fünf Schützen stand es 2:2, das Drama verlängerte sich in die Endlosschleife. „Elfmeterschießen ist eklig, das mag ich gar nicht“, sagte Demirović später. „Ich habe es aus allen Seiten schon erlebt.“ Diesmal sollte es gut ausgehen. Beim 19. Versuch wehrte Nübel den Ball von Frenkert ab, beim 20. trat Assignon an – und traf.
Was dieser Abend über den VfB Stuttgart erzählt
Er erzählt zuerst von Widerstandsfähigkeit. Zweimal hinten, einmal taumelnd, und doch weiter – ein Team, das in Phasen die Nerven behält. Er erzählt aber auch von alten Schwächen, die sich noch nicht verabschiedet haben: zu wenig Ruhe im Passspiel, zu viele Ballverluste im Zentrum, zu große Lücken zwischen den Linien. Die rechte Seite blieb lange ein Problem, die linke trug die Last. Und im Strafraum gilt weiter, was Kapitän Atakan Karazor schon nach Union gesagt hatte: härter verteidigen, entschlossener vollenden.
Er erzählt drittens von Figuren: Demirović als Doppelpacker und beinahe-Matchwinner; Woltemade als Joker mit Timing; Tomás, der aus einem schwachen Abend den wichtigsten Beitrag in der Verlängerung presste; Assignon, der mit dem 20. Elfmeter das Bild dreht; und Nübel, der vom Wackler zum Elfmeterhelden wurde. „Ich weiß nicht, wie gut ich heute einschlafen kann“, sagte der Torwart. „Das Spiel wird mich noch beschäftigen.“ Man glaubt es ihm gern: Für einen Keeper ist es der ganze Beruf in zwei Stunden verdichtet – Fehler, Wiedergutmachung, Erlösung.
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Und schließlich erzählt der Abend von einem Wettkampf, der Stuttgarts Saison prägen kann. „Das sind diese Nächte, von denen man immer redet“, sagte Demirović. Er lobte Braunschweig („überragend gespielt, nicht aufgegeben“) und zog den Satz heraus, der nach solchen Spielen Bestand hat: „Wir können mit breiter Brust rausgehen.“
Für Hoeneß bleibt die Hausaufgabe die gleiche: Konsequenz organisieren. Die Räume finden und halten, ohne die Balance zu verlieren; das Pressing dosieren, ohne in Passivität zu kippen; die rechte Seite integrieren, ohne die linke zu überfrachten. Der Abend in Braunschweig brachte die Erinnerung, dass Pokalrunden mitunter erst gewonnen sind, wenn der 20. Elfmeter sitzt. Und den Trost, dass man manche Nervenkrise übersteht, wenn man im entscheidenden Moment eiskalt bleibt.