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Seite 1Vorfahrt für immer!
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Seite 2Die Hauptstadt der Kreiselkunst
Seite 3Alles kreist hier umeinander
Dann jedoch, mehr oder weniger zeitgleich mit dem Fall der Mauer, änderte sich etwas auf grundstürzende Weise: Den strengen Geraden wurde ein weiches Rund eingeflochten, das regulierte System der Kreuzungen wich vielerorts einem Modell, das keinen Gegenverkehr kennt. Hier rast man nicht aneinander vorbei, hier gibt es keine Hierarchien von Haupt- und Nebenstraßen, alle bewegen sich in dieselbe Richtung. Und wer einmal drin ist, ist drin im Kreisverkehr, hat Vorfahrt für immer.
Ein wenig brauchte es allerdings, bis sich im deutschen Autoland herumsprach, dass ein anderes Denken anderer Fahrbahnen bedarf. Über die Roundabouts in England und die französischen Rond-points gelangte es schließlich auch nach Eislingen – und besitzt dort, wie überall sonst, nur einen gravierenden und ja, metaphysischen Nachteil: die leere Mitte.
Denn wie sieht das aus: ein öffentlicher Ort, um den notgedrungen alle kreisen – und dann ist da nichts, an dem man sich festhalten könnte? Auch in Eislingen wollte man den unbeseelten Dreh- und Angelpunkt, dieses gesellschaftliche Nichts, ganz dringend füllen, mit etwas Großem und Grünem, mit einem Mammutbaum. Und hätte es Paul Kottmann nicht gegeben, Designer und engagiert im örtlichen Kunstverein (ja, so etwas gibt es in Eislingen!), vermutlich wäre er wirklich gepflanzt worden.
Doch Kottmann schritt ein, die Fläche, erinnert er sich, sei ihm viel zu prominent vorgekommen, da habe man etwas Richtiges machen müssen. Er sagt: „etwas Markantes“. Und markant, das war in seinen Augen die Kunst. Er kenne da jemanden, erzählte er dem Bürgermeister, einen Bildhauer, den könnte man gewiss für so etwas gewinnen. Und wirklich, nach einer Weile erhob sich dann mitten in Eislingen ein Werk des Stuttgarter Künstlers Christoph Freimann, 6,50 Meter hoch, lauter Stahlstreben, rot, auf spannungsvolle Weise unsortiert – und vielen Menschen ein schlimmes Ärgernis.
Das jüngste Werk in Eislingen: „Der Stelzenläufer“ von Andreas Futter © Ilkay Karakurt für DIE ZEIT (Andreas Futter „Der Stelzenläufer“, 2024, Bronze, 7,5m, VG Bild-Kunst, Bonn 2025)
Geld ausgeben? Für die Spirale, einen Haufen Schrott? So ging das damals, erzählt Kottmann. „Ich habe noch mehrere Aktenordner voll, lauter böse Leserbriefe und Artikel.“ Denn dass man ihnen ungefragt etwas vorsetzte, von dem es hieß, es sei Kunst, obwohl es in ihren Augen keineswegs nach Kunst aussah und man für die 80.000 Mark auch gut ein paar Bronzegänse oder ein Mädchen mit Kopftuch am gurgelnden Brunnen hätte kaufen können, das schien etlichen Bürgerinnen und Bürgern ganz unplausibel. Sollten sie Freimanns Spirale doch in Stuttgart zeigen, in der Staatsgalerie, nicht hier aber, wo niemand sie ertragen mag, und alle sie ständig ertragen müssen.
Als wenig später ein zweiter Kreisel geplant wurde und im Gemeinderat erneut entschieden werden musste, ob und wie mit dem kahlen Rund zu verfahren sei, begann das eigentliche Kunstwunder von Eislingen. Während andere Kommunen ihre Asphaltinseln mit viel Gemütsschrott vollstellten, mit Wappenbäumen, Mostbirnen und als Kunst getarnter Volkstümelei, entschied hier der Bürgermeister, den allgemeinen Unmut keineswegs mit Kitsch zu besänftigen. Er setzte abermals auf Kunst. Wieder wurden Kottmann und der Kunstverein zu seinen Beratern. Wieder ging der Streit von vorne los: Zu teuer! Zu hässlich! Und doch.
Heute – zwei Jahrzehnte und insgesamt neun Kunstwerke später – blicken viele auch mit Stolz auf die Skulpturen, häufig wird Eislingen nun als Hauptstadt der Kreiselkunst gepriesen, nirgends, in keiner Kleinstadt, gebe es mehr davon auf ähnlich engem Raum. Hier dreht man sich munter im Kreis – und ist dabei unversehens ins Offene geraten, dorthin, wo man miteinander debattiert, ohne je zu wissen, was am Ende herauskommen mag. Denn gleichgültig ist die Kunst hier niemandem. Man nimmt sie ernst, schaut genau hin, und immer – das lässt sich mit Gewissheit sagen – ist die Kunst politisch.