AboEU-Botschafter im letzten Interview –

«Wenn Sie die Zuwanderung reduzieren wollen, müssen Sie Ihre Unternehmen in die USA verlegen»

Publiziert heute um 05:54 UhrEU-Botschafter Petros Mavromichalis in einem Interview in der EU-Residenz in Bern, im Hintergrund ein Gemälde.

Der EU-Botschafter Petros Mavromichalis sagt, er fahre in der Schweiz auf der Autobahn 120 Kilometer pro Stunde, in Frankreich schneller. «Trotzdem beklage ich mich nicht, dass Sie mir Ihre Regeln aufzwingen.»

Foto: Adrian Moser

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Petros Mavromichalis’ letzter Sommer in Bern war der ereignisreichste in fünf Jahren: Der Bundesrat präsentierte das Resultat der Verhandlungen mit der EU, und Donald Trump verhängte seine Strafzölle – wobei die EU deutlich besser wegkam als die Schweiz. Wie sieht der EU-Botschafter unser Land und dessen Zukunft?

Donald Trump hat der EU 15 Prozent Zölle aufgebrummt, der Schweiz 39 Prozent. Ist das der Preis für den Schweizer Isolationismus?

Man sollte dieser Differenz keine allzu grosse Bedeutung beimessen. 15 oder 39 Prozent: Das kann sich von einem Tag auf den anderen wieder ändern. Klar ist jedoch, dass man als Kleinstaat, der auf sich allein gestellt ist, weniger Verhandlungsmacht hat.

Links-Grün kritisiert, die Schweiz hätte sich bei den Verhandlungen mit Trump besser an die EU angehängt. Wäre das überhaupt möglich gewesen?

Es hilft sicher, sich zwischen Partnern auszutauschen. Aber weil die Schweiz nicht Teil der EU und unserer Zollunion ist, verhandelt jeder für sich. Ich würde also nicht sagen, dass der Bundesrat hier einen Fehler gemacht hat.

Die EU-Länder zahlen für die 15 Prozent Zölle einen hohen Preis: Sie kaufen Flüssiggas für 600 Milliarden Euro, obwohl das ihrer Energie- und Klimastrategie widerspricht. Ist es das wert?

Es ist das am wenigsten schlechte Zollabkommen, das wir in der aktuellen Situation erzielen konnten. Es verschafft uns hoffentlich eine gewisse Stabilität und Vorhersehbarkeit. Ich denke, wir können beruhigt sein, ohne zu triumphieren.

Glauben Sie, dass Donald Trumps Strafzoll einige Schweizer Skeptiker von den neuen EU-Verträgen überzeugt?

Ich denke, wir haben einmal mehr den Beweis, dass die EU die zuverlässigste Partnerin und beste Freundin der Schweiz ist. Unsere Beziehung ist wichtiger denn je.

Es gibt viel Kritik am neuen Vertragspaket zwischen der Schweiz und der EU, insbesondere an der dynamischen Rechts­übernahme. Letztendlich verhält sich die EU ein wenig wie Trump: Sie nutzt ihre Macht, um der Schweiz ihren Willen aufzuzwingen …

Nein, überhaupt nicht. Es geht bei diesen Verträgen darum, dass die Schweiz am EU-Binnenmarkt teilnehmen möchte.

«Die Geschichte wartet nicht auf die Schweiz. Die Ereignisse überschlagen sich.»

Die Schweiz konnte auch bis anhin am Binnenmarkt teilnehmen, ohne dynamische Rechtsübernahme.

In der Schweiz fahre ich auf der Autobahn 120 Kilometer pro Stunde. In Frankreich 130, und in Deutschland gibt es auf gewissen Strecken keine Begrenzung. Trotzdem beklage ich mich nicht, dass Sie mir Ihre Regeln aufzwingen. Wenn Sie auf unserem Markt zu den gleichen Bedingungen wie unsere Unternehmen präsent sein wollen, müssen Sie unsere Regeln respektieren. Das ist doch das Mindeste. Dafür wird die Schweiz künftig schon während des Gesetzgebungsprozesses konsultiert und kann sich Gehör verschaffen.

Gleichzeitig verlangen Sie von uns eine Eintrittsgebühr für Ihren Markt: zu Beginn 130 Millionen Franken für den Zusammenhalt, danach 350 Millionen pro Jahr.

In einem Binnenmarkt konzentriert sich das Wachstum tendenziell in den dynamischsten Regionen. Deshalb braucht es einen Ausgleich. Man muss auch die Relationen sehen: Der Schweizer Beitrag beträgt etwa 14 Schweizer Franken pro Einwohner und Jahr. Die Vorteile der Teilnahme am Binnenmarkt belaufen sich gemäss einer Studie der Bertelsmann-Stiftung auf etwa 3000 Franken pro Jahr. Das ist kein schlechtes Geschäft.

Europa profitiert auch von der Markt­teilnahme der Schweiz – und bezahlt nicht dafür.

Ja, beide Seiten profitieren. Aber weil die Schweiz eine sehr starke Wirtschaft hat, profitiert sie überdurchschnittlich. Aus ähnlichen Gründen gibt es in der Schweiz den Finanzausgleich zwischen den Kantonen. Der Schweizer Kohäsionsbeitrag an die weniger entwickelten Länder Europas hilft auch, den Migrationsdruck zu mindern, weil er dort bessere Lebensbedingungen und Arbeitsplätze schafft.

Apropos Migration: Mit den neuen Verträgen erhalten EU-Bürger das Dauer­aufenthalts­recht schneller, und der Familien­nachzug wird leichter. Die Migration nimmt also zu.

Die Schweiz hat in diesem Bereich zahlreiche Ausnahmen ausgehandelt, etwa striktere Voraussetzungen für die Niederlassung oder leichtere Ausweisungen für verurteilte EU-Bürger. Aber Zuwanderung ist nicht das Ergebnis der Personenfreizügigkeit, sondern des Wirtschaftswachstums. Das zeigt das Beispiel Grossbritannien: Nach dem Brexit hat die Zuwanderung sogar zugenommen. Statt aus Polen oder Italien kommen die Menschen nun einfach aus Asien und Afrika. Wenn die Wirtschaft Arbeitskräfte benötigt, findet sie diese. Wenn Sie die Zuwanderung reduzieren wollen, müssen Sie Ihre Unternehmen in die USA verlegen, wie es sich der amerikanische Präsident wünscht. Dann benötigen Sie keine ausländischen Arbeitskräfte mehr.

Was war das grösste Zugeständnis, das die EU zugunsten der Schweiz gemacht hat?

Sicherlich die einseitig aktivierbare Schutzklausel. Keiner unserer Mitgliedsstaaten oder unserer Partner im Europäischen Wirtschaftsraum hat eine solche Klausel. Es ist eine massgeschneiderte Lösung für die Schweiz.

Weshalb haben Sie zugestimmt, obwohl Sie immer betonen, es müssten für alle Marktteilnehmer dieselben Regeln gelten?

Weil uns gesagt wurde, dass dies für die Schweizer Bürger unerlässlich sei. Und wir unseren Partnern zuhören.

EU-Botschafter Petros Mavromichalis im Gespräch in der EU-Residenz in Bern.

Botschafter Petros Mavromichalis in der EU-Residenz in Bern.

Foto: Adrian Moser

Die Schutzklausel ermöglicht es, die Migration bei schwer­wiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen zu regulieren. Aber in solchen Situationen kämen wahrscheinlich ohnehin weniger Europäer in die Schweiz. Was also nützt die Klausel?

Sie wollen die Personenfreizügigkeit ja hoffentlich nur im Falle schwerwiegender Probleme einschränken. Dies grundlos zu tun, wäre reine Schikane.

Woher kommt Ihrer Meinung nach die Skepsis vieler Schweizerinnen und Schweizer gegenüber der EU?

Die Schweizer hängen an ihren Gewohnheiten, Traditionen und ihrer Stabilität. Sie verändern nur dann etwas, wenn sie davon überzeugt sind, dass es wirklich notwendig ist. Aber ich stelle manchmal die Gegenfrage: Wenn Sie mit einem Zauberstab die Schweiz an einen anderen Ort versetzen könnten: Welche Nachbarn hätten Sie lieber als die EU? Niemand hatte darauf bisher eine Antwort parat.

Rechnen Sie mit einem Ja zu den Verträgen in der Volksabstimmung?

Bis 2027 oder 2028 kann noch viel passieren. Aber ich spüre eine starke Unterstützung in der Wirtschaft, in der Politik und auch im Bundesrat. Daher mache ich mir derzeit keine Sorgen.

«Die Zuwanderung ist der Preis des Wohlstands.»

Wäre es akzeptabel, wenn die Schweiz erst 2028 über das Vertragspaket entscheiden würde?

Wir haben nie über ein Datum gesprochen und respektieren die Schweizer Prozesse. Der Entscheid liegt beim Schweizer Parlament. Ich persönlich würde sagen: Die Geschichte wartet nicht auf die Schweiz. Die Ereignisse überschlagen sich. Und Ihr Land ist in der Lage, schnell zu entscheiden, wenn die Umstände es erfordern.

Was hat Sie während Ihrer Zeit in der Schweiz am meisten geprägt?

Ich habe mir beim Skifahren die Bänder gerissen, das war ein Schock. (lacht) Sonst würde ich sagen: Die Besuche in allen 26 Kantonen, die vielen Treffen mit jungen Menschen in den Schulen und Universitäten, der freundliche Empfang überall.

Was hat Sie am meisten genervt?

Immer wieder dieselben Fragen beantworten zu müssen zur dynamischen Rechtsübernahme sowie zur Überbevölkerung, die angeblich durch die Personenfreizügigkeit verursacht werde.

Hatten Sie nie den Eindruck, dass die Schweiz überbevölkert ist, beispielsweise in den Zügen?

Ich verstehe die Besorgnis über volle Züge und Staus auf der Autobahn. Aber dafür ist nicht die Personenfreizügigkeit verantwortlich.

Sondern?

Ich mache einen Vergleich mit meiner Heimat, einer griechischen Insel. Dort nimmt die Zahl der Touristen stetig zu. Am Strand sind alle Sonnenschirme besetzt. Neu muss ich schon früh einen Tisch im Restaurant reservieren. Aber ist das die Schuld der Touristen?

Sagen Sie es uns.

Griechenland lebt vom Tourismus. Wenn man Hotels baut, kommen die Leute. In der Schweiz ist es ähnlich: Erfolgreiche Unternehmen schaffen Arbeitsplätze. Und es gibt nun mal keine Möglichkeit, den deutschen Arzt, der auf Kosten der deutschen Steuerzahler ausgebildet wurde und in einem Zürcher Spital arbeitet, um 17 Uhr nach Baden-Württemberg zu beamen. Die Zuwanderung ist der Preis des Wohlstands.

Und jetzt – was machen Sie als Nächstes?

Ich gehe nach Lateinamerika. Nach Uruguay, ein Land, das man die Schweiz Südamerikas nennt. Ich werde die Berge und Seen gegen Strände, das Meer und die Pampa eintauschen.

Eine Schweiz am Meer, die auch noch günstiger ist …

… die Diplomaten vor Ort, die ich kenne, sagen mir: Vorsicht, es ist sehr teuer hier. Dann antworte ich: Ich komme aus der Schweiz, es kann kaum noch teurer sein als hier. (lacht)

Die EU-Verträge – und wie sie in Brüssel und Bern gesehen werden

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EinloggenLarissa Rhyn ist Leiterin der Bundeshausredaktion und stellvertretende Ressortleiterin Politik & Wirtschaft.@larissa_rhynDelphine Gasche est correspondante parlementaire à Berne depuis mai 2023. Spécialisée en politique, elle couvre avant tout l’actualité fédérale. Auparavant, elle a travaillé pendant sept ans pour l’agence de presse nationale (Keystone-ATS) au sein des rubriques internationale, nationale et politique.

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