Zwischen den Baugerüstbeinen riecht es modrig. Unter den wuchernden Büschen haben sich Ratten eingenistet. Dazwischen bedeckt Müll den gesamten Boden: zerbrochene Bierflaschen, Nadeln, Plastiktüten. An diesem Dienstagmittag knien 15 Menschen in weißen Schutzanzügen, Handschuhen und Masken auf einem Grünstreifen zwischen dem Eingang eines Berliner Clubs und der Betonwand, die die Warschauer Straße stützt. Sie ziehen Pappe hervor, füllen einen orangefarbenen Müllsack nach dem anderen. Die Müllsäcke kommen von der Berliner Stadtreinigung (BSR). Die Reinigungskräfte nicht. Sie machen das freiwillig, in ihrer Freizeit.
Nach wenigen Stunden stapeln sich mehr als ein Dutzend dieser Säcke vor einem Gittertor auf dem RAW-Gelände. Wären die Freiwilligen heute nicht hier, läge der Müll wohl immer noch dort. An diesem versteckten Ort. „Wir wissen nie, was wir finden werden“, sagt Valeriia Tantcyreva. „Heute war es unter anderem eine tote Ratte. Beim letzten Mal waren es Ausweise. Oder einfach nur Haufen von menschlichen Exkrementen.“
Zwischen Scherben, Nadeln und Rattennestern: So sieht Berlin wirklich aus.Markus Wächter/Berliner Zeitung
Valeriia Tantcyreva ist 30 Jahre alt, stammt aus Jekaterinburg in Russland und lebt seit acht Jahren in Berlin. Sie sei keine Politikerin, keine Umweltaktivistin im klassischen Sinne, sagt sie. Eigentlich arbeitet sie als Freelancerin und Bloggerin. Unter dem Usernamen _leratan_ teilt sie auf TikTok und Instagram vor allem Insidertipps aus Berlin sowie Alltagseinblicke für eine russischsprachige Community. Ihr TikTok-Kanal zählt rund 9500 Follower, während ihr Instagram-Account mit rund 21.000 Followern vor allem Lifestyle- und Kulturthemen aus Berlin beleuchtet. Straßenmüll war eigentlich kein Thema, das Valeriia bewegt hat.
Das änderte sich im Januar 2025. „Nach Silvester war es einfach ekelhaft draußen“, erzählt sie. „Zwei Wochen lang lag Müll vor meiner Haustür. Niemand kam, niemand kümmerte sich, niemand fühlte sich zuständig.“ Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie ging los und kaufte sich eine Müllzange. Am Ende hatte sie zwei 120-Liter-Müllsäcke gefüllt. „Ich habe es in meine Instagram-Story gestellt und plötzlich reagierten alle darauf. So viele warme Nachrichten. Alle sagten: Wahnsinn, dass du das machst“, erinnert sie sich.
Valeriia Tantcyreva, 30, steht zwischen Müllsäcken und koordiniert die Aufräumaktionen. Die Gründerin von SauBer hat aus einer spontanen Einzelaktion eine Bewegung gemacht, die inzwischen über 1000 Menschen mobilisiert.Markus Wächter/Berliner Zeitung
Was Valeriia für eine einmalige Aktion hielt, wurde zum Ritual. In den folgenden Wochen begann sie, immer wieder eigenständig öffentliche Orte aufzuräumen: am S-Bahnhof Greifswalder Straße, in ihrem Kiez, dort, wo der Müll ihr besonders auffiel. Einmal sammelte sie sechs Stunden lang. Elf volle 120-Liter-Müllsäcke. Für ihren Blog filmte sie schon damals alles mit, das Video ihrer Aktion erreichte 100.000 Menschen. „Da habe ich gemerkt: Hier passiert etwas. Es ist nicht nur mein Problem. Es ist das Problem einer ganzen Stadt.“
Heute, acht Monate später, sind aus den Videos und der Empörung eine Community und die Initiative SauBer gewachsen. Über 1000 feste Freiwillige haben sich mittlerweile angeschlossen. Vernetzt sind sie durch eine Telegram-Gruppe. Jeden zweiten Sonntag organisieren sie „Cleanups“ an Berliner Müllbrennpunkten: Warschauer Straße, Hallesches Tor, Gesundbrunnen. Orte, an denen der Müll so tief vergraben ist, dass man manchmal Fundstücke von vor 40 Jahren hervorzieht, sagt Valeriia.
Eine Freiwillige kämpft sich mit der Müllzange die Warschauer Straße entlang und sammelt jeden einzelnen Zigarettenstummel, Plastikfetzen und Papierfetzen auf.Markus Wächter/Berliner Zeitung
Mit ihrem Engagement hat Valeriia auch die Aufmerksamkeit der Berliner Stadtreinigung erreicht. Im Juli saß sie nach eigenen Angaben bei einem Treffen mit der PR-Abteilung zusammen. „Sie haben mir so viel Hoffnung gemacht“, sagt sie. „Wir sind mit so vielen Ideen auf sie zugekommen. Aber danach: Stille. Keine Antwort mehr. Nichts.“ Valeriia sagt, sie habe viele Fragen: „Warum gibt es nur die kleinen orangenen Mülleimer, die meistens nicht genug Volumen haben?“ Sie sagt, die Stadt müsse größere Mülleimer zur Verfügung stellen, vor allem in den Sommerzeiten, in denen sich mehr Menschen draußen aufhalten. „Wenn die Stadt so ein Problem mit Zu-verschenken-Kisten auf der Straße hat, wieso schafft man nicht einen Raum in jedem Kiez dafür?“, fragt sie sich.
Die BSR verweist auf eigene Kampagnen wie „Sauber geht nur gemeinsam“, investiert in PR und Werbeaktionen. Doch bei den Freiwilligen, die ihre Arbeit im Kleinen machen, komme davon kaum etwas an, sagt Valeriia. „Wir sind bereit, kostenlos die Stadt zu reinigen. Ich habe Kontakt zu einzelnen Mitarbeitern der Berliner Stadtreinigung, die versuchen, uns zu unterstützen, und sich wirklich kümmern. Aber diejenigen, die bei der BSR wirklich etwas zu entscheiden haben, ignorieren uns.“
Freiwillige kommen aus Russland und der Ukraine
Die Szenen, die sie in ihren sozialen Medien von den Aufräumaktionen teilt, sind so absurd wie erschütternd: Am Halleschen Tor ziehen sie Schaumstoffreste aus der Spree und einen verschimmelten Sofa-Rahmen aus einer Ecke, neben dem Dutzende Kronkorken und Zigarettenstummel liegen. In Gesundbrunnen finden sie Nadeln, E-Zigaretten und Unterwäsche. In Treptow-Köpenick stoßen sie auf ganze Stapel alter Dokumente. „Die BSR stellt uns Müllsäcke, Westen und Handschuhe zur Verfügung. Wir kaufen inzwischen aber auch selbst Schutzanzüge und Masken für die Freiwilligen“, sagt Valeriia. „Weil man nie weiß, ob man auf Kadaver oder gefährliche Stoffe stößt.“
Trotz alledem sind 15 Menschen heute zum Aufräumen gekommen. „Es handelt sich heute um eine kleinere, spontane Aktion“, sagt Valeriia. „Vor einigen Wochen haben wir die Warschauer Straße mit einer größeren Gruppe sauber gemacht, dabei sind wir auf den Platz unter dem Eingang eines Clubs aufmerksam geworden. Ich habe dann in Eigeninitiative den Besitzer des Geländes kontaktiert und ihm angeboten, dass wir hier aufräumen.“
Die Freiwilligen sprechen Russisch miteinander. Keiner von ihnen ist in Deutschland geboren. Manche sind erst vor kurzer Zeit vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet, alle leben in Berlin. Jetzt wollen sie gemeinsam die Stadt sauber halten.
Mit Zangen und Handschuhen bücken sich die Helferinnen und Helfer stundenlang, sammeln Zigarettenstummel, Glasscherben und Papierfetzen. Die Arbeit ist hart – und doch für viele ein befreiendes Gefühl, weil die Ergebnisse sofort sichtbar sind.Markus Wächter/Berliner Zeitung
Nach fast zwei Stunden Arbeit auf dem Gelände lehnt sich Jana Vohminova erschöpft zurück, zieht die Maske vom Gesicht, setzt sich auf die Metallstufen einer Treppe und atmet tief ein. Vor ihr türmen sich bereits 30 prall gefüllte Müllsäcke. Sie blickt auf die anderen Freiwilligen, die noch weiter im Müll hocken und fleißig zusammenkehren. Sie lächelt. „Es fühlt sich fast wie ein High an“, sagt die 39-Jährige. „Nicht nur, weil wir hier etwas für die Stadt tun. Sondern weil wir ein Zeichen setzen. Gegen das Wegsehen, gegen das Denken: ‚Soll sich doch jemand anderes kümmern.‘“
Jana lebt seit 23 Jahren in Deutschland, seit 13 Jahren in Berlin. Geboren und aufgewachsen in Russland, besitzt sie inzwischen die doppelte Staatsbürgerschaft. Sie sagt, sie sei eine Berlinerin, die genug habe: genug vom Dreck und auch genug Zeit, um sich zu engagieren. „Vor einem Monat habe ich das Video gesehen, wie die Gruppe die Warschauer Straße sauber gemacht hat. In der Woche darauf war ich in Gesundbrunnen dabei. Es war anstrengend, aber ich war begeistert.“
Jana Vohminova zieht den schwarzen Container, der mit Müllsäcken gefüllt werden soll. Mehrere Stunden schleppt sie gemeinsam mit den anderen Freiwilligen Abfall aus allen Ecken auf dem Gelände an der Warschauer Straße. Eigentlich sollte der Container die ganze Aktion abdecken, doch am Ende reichte er bei weitem nicht.Markus Wächter/Berliner Zeitung
Beim ersten Mal nahm sie sich eine Müllzange und beschloss, die Zigarettenstummel am Straßenrand und auf dem Bürgersteig einzusammeln. 200 Meter lang. Kippe für Kippe. „Ich habe auch geraucht und meine Zigaretten nicht immer in Aschenbechern oder Mülleimern entsorgt“, erzählt sie. „Es war, als würde ich jede Zigarette von mir selbst aufheben. Irgendwann taten mir die Hände weh. Aber im Kopf hat sich etwas verändert.“ Seitdem sei sie rauchfrei, sagt Jana.
Die Subbotnik-Tradition
Aufräumaktionen wie diese erinnern sie an ihre Kindheit in Russland. Damals nahm Jana an Subbotnik-Aktionen teil. Das sind Aufräumtage, an denen ganze Dörfer oder Stadtviertel gemeinsam den öffentlichen Raum reinigen. Das Prinzip übernahm später auch die DDR. Wie der MDR im September 2024 berichtete, ging es anfangs um den Wiederaufbau, „später eher um den sozialistischen Wettbewerb in den Betrieben und Wohngebietsgemeinschaften“.
Für Jana war das in der Kindheit normal. „Zweimal im Jahr ging man raus, fegte, sammelte und machte sauber“, sagt sie. „Es war selbstverständlich, dass man Verantwortung übernimmt.“ In Deutschland habe sie das lange vermisst. „Vor 20 Jahren hatte ich das Gefühl, dass hier vieles organisierter ist. Heute habe ich den Eindruck nicht mehr.“
Zwei Freiwillige schleppen schwer beladene Müllsäcke über den Asphalt. Die orangefarbenen Säcke stammen von der BSR.Markus Wächter/Berliner Zeitung
Jana sagt, im Müll auf den Straßen sei der Zustand der Gesellschaft zu erkennen. „Zu Hause will niemand Dreck haben. Da passt man auf, dass alles sauber und ordentlich ist. Aber draußen wird der Müll einfach auf die Straße geschmissen. Der reale Zustand ist nichts anderes als ein Spiegel unserer Haltung.“ Und sie will ein Zeichen setzen: „Es gibt genug Leute, die nur meckern, alles schlecht finden, aber nichts machen. Ich will etwas Konstruktives tun. Ich bin eigentlich ein unpolitischer Mensch. Aber wenn jeder in seinem Herzen anfängt, etwas Negatives zu beseitigen, dann ändert sich auch außen etwas.“
Wir arbeiten an Orten, die niemand sehen will.
Valeriia Tantcyreva
Die letzten 20 Minuten fühlen sich an wie ein Endspurt. Einige haben bereits aufgehört, sind am Ende ihrer Kräfte. Sie sitzen erschöpft am Rand. „Wir dachten, es sind nur noch zehn Minuten und dann haben wir es hinter uns“, erzählt Valeriia. Doch als sie den Kopf dreht, liegt da plötzlich noch ein gewaltiger Berg Müll. Für einen Moment herrscht Stille. Dann kommt so etwas wie ein zweiter Atem: „Wir sind nur einmal hier und wollen diesen Haufen noch schaffen“, beschließt die Gruppe.
Zwischen all dem Dreck tauchen absurde Funde auf. Ein Sexspielzeug, bunte Kostüme, unzählige Spritzen und Nadeln und sogar ein Zehneuroschein. „Manchmal lacht man kurz über das, was man findet“, sagt eine Helferin. Sie hält eine Getränkekarte eines Berliner Clubs in der Hand. „Aber eigentlich ist es bitter, weil es so genau zeigt, was in dieser Stadt auf der Straße landet.“
Ganz ohne Konflikte verläuft der Einsatz nicht. Einer der Freiwilligen verlässt den Platz früher und will ein Foto von der Warschauer Straße aus machen. Da wird er von einem offenbar obdachlosen Mann angegriffen, es kommt zu einer kurzen körperlichen Auseinandersetzung – der Mann versucht, dem Freiwilligen das Handy aus der Hand zu reißen. „Auch das gehört leider dazu“, sagt Valeriia nach dem Vorfall nüchtern. „Wir arbeiten an Orten, die niemand sehen will.“
Die Erschöpfung nach diesen sieben Stunden ist drückend. „Ich kann meinen Rücken, meine Arme, meine Beine kaum noch spüren“, sagt eine der Freiwilligen, als sie die Harke an ein Gerüst stellt und zur Wasserflasche greift. Ihre Hände leuchten rot, als sie die Handschuhe auszieht. „Aber trotzdem ist es ein gutes Gefühl, weil wir sehen, was möglich ist“, sagt sie und öffnet den Schraubverschluss.
Schutzanzüge und Masken gehören schon zur Standardausrüstung. Denn unter den Brücken lauern nicht nur Ratten und verrottete Lebensmittel, sondern auch Spritzen und menschliche Exkremente.Markus Wächter/Berliner Zeitung
An diesem Dienstag gehen Valeriia und die Freiwilligen an ihre Grenzen. Sieben Stunden lang, ohne Mittagspause, schleppen sie die Säcke und ziehen Tüten voller Glasscherben aus dem Gebüsch hervor. Doch auch wenn der Müll nun zusammengekehrt und ordentlich aufgereiht in den orangefarbenen Müllsäcken beisammensteht, ist die Arbeit noch nicht vorbei.
Der Gruppe wurde ein schwarzer Container für die Müllsäcke zur Verfügung gestellt. Als klar wurde, dass der eine Container nicht reicht, hieß es plötzlich, die Helfer müssten selbst organisieren, dass sie abgeholt werden. „Heute Morgen um 8 Uhr bekam ich die erste Nachricht: ,Habt ihr schon eine Lösung gefunden?‘ Kein ,Danke‘, kein ,Toll gemacht‘ – nur diese Frage“, erzählt Valeriia am nächsten Tag. „Dabei waren die Säcke schwer, wir haben sie mehrfach umgelagert. Es war harte Arbeit. Und am Ende fühlte es sich so an, als sei es unsere Schuld, dass der Müll überhaupt da war.“ Der Umgang mit den offiziellen Stellen belaste die Planung und Umsetzung der Aktionen oft, sagt Valeriia.