Das Foto aus der Wikipedia zeigt Kaiser Nero, in einem Gemälde von Abraham Janssens van Nuyssen, um 1620. | Foto: gemeinfrei/Fotograf Ralf Roletschek
Köln | Agrippina d.J. ist als die Stadtgründerin Kölns in die (Kölner Stadt-)Geschichte eingegangen. Ihr Sohn Nero ließ sie ermorden. Nun sagt der renommierte Althistoriker Mischa Meier, Professor an der Universität Tübingen: Es war alles Kunst.
Interview: Christoph Mohr
Sie schreiben gerade an einem neuen Nero-Buch. Gibt es nicht schon genug Nero-Bücher? Was haben Sie Neues zu sagen?
Mischa Meier: Nero ist eine der populärsten Gestalten der Antike. Jeder hat schon einmal von ihm gehört und kennt einige seiner (vermeintlichen) Untaten. Es ist daher wichtig, Angebote offenzuhalten, mit denen man sich im Lichte der aktuellen Forschung und unter aktuellen Fragestellungen über ihn informieren kann. Auch für die Wissenschaft bleibt er eine schillernde, enigmatische Figur. Man reibt sich an ihm, an den Zeitumständen des frühen Prinzipats – das sind alles interessante Herausforderungen. Über mein Buch will ich noch nicht allzu viel verraten, sonst gibt es ja keine größere Spannung mehr. Aber: Es wird u.a. um die Frage nach der Rolle und Bedeutung des von Nero propagierten und praktizierten Künstlertums und die Formen seiner Umsetzung gehen.
Nero war sicherlich nicht der bedeutendste römische Kaiser. Er hat keine großen Eroberungen gemacht oder das römische Reich sonstwie zu großer Blüte geführt. Nicht einmal großartige Bauten wie das Colosseum oder das Pantheon in Rom sind von ihm erhalten.
Und trotzdem scheint das Interesse an Nero seit Jahrhunderten größer als das an anderen römischen Kaisern, an Augustus oder Trajan (maximale Ausdehnung), Hadrian, Mark Aurel, oder Konstantin dem Großen, ganz zu schweigen, sagen wir, von einem wirklich erfolgreichen Kaiser wie Antoninus Pius (138-161 n. Chr.), dessen Namen aber nur noch Experten kennen, obwohl die Römer unter ihm die zweitlängste Friedenszeit überhaupt erlebten und ihren Wohlstand genießen konnten.
Woran liegt das? Ist das Böse eben doch faszinierender als das Gute, das immer irgendwie langweilig ist.
Mischa Meier: Nero kann man nicht von der Nero-Rezeption trennen – anders gesagt: Wenn man sich mit Nero beschäftigt, bekommt man immer schon sehr dezidierte, teilweise drastische Werturteile mitgeliefert, in weitaus stärkerem Maße als bei anderen Kaisern. Das liegt daran, dass er schon bei Zeitgenossen auf Unverständnis gestoßen ist und man ihm nicht nur alles zutraute, sondern schon zu Lebzeiten auch einiges andichtete. Dazu gehört auch, in ihm eine Art Verkörperung des Bösen zu sehen – obwohl wir seinen Charakter gar nicht ergründen können. Und dann spielt natürlich die Eigendynamik der Nero-Rezeption eine Rolle, die ikonische Bilder produziert hat, vor allem in Gestalt von Peter Ustinov im Film ‚Quo vadis?‘ (1951).
In dem Film gibt Peter Ustinov Nero als wahnsinnigen Kaiser, der vor dem brennenden Rom die Leier spielt. Wie nah (oder fern) ist dieser Film an der historischen Realität?
Mischa Meier: Der Film ist sehr nah an der historischen Realität, allerdings nicht an der Neros, sondern an derjenigen der Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Der Antagonismus von Gut und Böse, den der Film präsentiert, lässt sich sehr gut auf den Kampf gegen das deutsche NS-Regime rückprojizieren und spiegelt bereits den beginnenden Kalten Krieg. Nero selbst wird in dem Film in Klischees gewickelt, die großenteils schon in der antiken Überlieferung präsent sind – aber das alles wird massiv überzeichnet und entwickelt dadurch eine ganz eigene Qualität. Das macht das Faszinierende dieses Films aus – und natürlich die großartige Filmmusik von Miklós Rózsa.
Das Bild, das die Geschichtswissenschaft von Nero zeichnen kann, beruht auf wenigen Texten, die allesamt Jahrzehnte nach dessen Tod verfasst wurden. Dazu gehören Tacitus, vor allem mit den „Annalen“, und die beiden erst nach dem Tod Neros geborenen Geschichtsschreiber Sueton und Cassius Dio. Die sind bei Althistorikern gut bekannt. Haben Sie neue Quellen entdeckt?
Mischa Meier: Nein. Neue Quellen zu entdecken, ist auch nicht das Ziel althistorischer Forschung. Das, was vorhanden ist, ist bekannt und in der Regel auch gut erschlossen. Die Herausforderung besteht darin, das begrenzte Material immer wieder neu zu drehen und zu wenden, unter neuen theoretisch-methodischen Prämissen anzugehen und aus Fragestellungen heraus zu bewerten, die sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern und aktualisieren.
In der Tat sind die Geschichts- und Biographienwerke des Tacitus, Sueton und Cassius Dio erst nach Neros Tod entstanden und reflektieren damit schon ein längeres Nachdenken über diesen Kaiser. Aber es gibt auch zeitgenössisches Material, z.B. die Werke Senecas.
Die große Christenverfolgung
Mit Nero verbindet man üblicherweise die große Christenverfolgung in Rom, die von 64 oder 65 n. Chr. bis zum Tod Neros 68 n. Chr. dauerte und die auch für die christliche Tradition von allergrößter Bedeutung ist, weil in ihr die Aposteln Paulus und Petrus den Tod gefunden haben und zu christlichen Märtyrern wurden und sich der heutige Petersdom über dem mutmaßlichen Grab des Apostel Petrus erhebt.
Üblicherweise werden diese Verfolgungen der (Juden-) Christen, die in die Hauptstadt des römischen Imperiums gezogen waren, damit erklärt, dass Nero die Schuld für den großen Brand Roms (64 n. Chr.) auf diese Gruppe abwälzen wollte. Oder dass er die Christen töten ließ, weil diese den Kaiserkult verweigerten.
Wenn wir es richtig sehen, sagen Sie: Das ist von A bis Z falsch.
Mischa Meier: ‚Falsch‘ ist ein schwieriger Ausdruck, wenn es um die Beurteilung des vorliegenden Materials geht. Und da besitzen wir tatsächlich – gerade zu diesem wichtigen Thema – nur sehr wenige Zeugnisse. Tatsächlich habe ich aber eine eigene, vom Mainstream der Forschung ein wenig abweichende Meinung zu diesen Geschehnissen.
Vielleicht beginnen wir mit einem Detail, das aber signifikant ist: den Zahlen. Von einer großen Christenverfolgung könne keine Rede sein, sagen Sie, weil das die Zahlen gar nicht hergäben.
Mischa Meier: Grundsätzlich: Wir besitzen keine Quellen, die demographisch verwertbare Zahlen nennen; auch archäologisches oder anderes Material sagt darüber nichts aus. Insofern kann man lediglich mehr oder weniger plausible Schätzungen anstellen.
Aber ich würde sagen:
Gesamtzahl Christen in Rom: minimal.
Gesamtzahl Juden im Rom: gering, aber sichtbar.
Getötete Christen: angesichts der verzerrenden Überlieferung keine Schätzungen möglich.
Gesamtbevölkerung Rom: ebenfalls schwer zu sagen – vielleicht zwischen 500000 und 1 Millionen Menschen.
Dann sagen Sie, dass es sich (aus römischer Sicht) gar nicht um Christen gehandelt hat, in dem Sinne, dass die Menschen, die Nero töten ließ, von den Römern/im antiken Rom zu diesem Zeitpunkt gar nicht als Christen gesehen worden sind.
Mischa Meier: Das ist richtig. Christen waren in den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts in Rom noch nahezu unsichtbar; wenn man sie überhaupt wahrnahm, dann als kleine sektiererische jüdische Splittergruppe. Die Christen selbst befanden sich ja auch noch mitten im Abgrenzungsprozess gegenüber den Juden.
Davon muss man die Situation im frühen 2. Jh. unterscheiden, als Historiographen wie Tacitus und Leute wie Plinius schrieben – die Texte, aus denen wir einen Großteil unserer Informationen beziehen. Zu diesem Zeitpunkt gab es offenbar nicht nur bereits einen (auch von Altgläubigen verwendeten) Begriff für die Christen, sondern – zumindest in senatorischen Milieus – auch eine Diskussion über sie.
Und dann, hier wird es besonders heikel, behaupten Sie, dass die damalige jüdische Gemeinde in Rom die (Juden-) Christen bei den römischen Autoritäten gleichsam angeschwärzt habe.
Mischa Meier: Die frühen Christengemeinden befanden sich im Abgrenzungsprozess gegenüber den Juden und missionierten auch in diesen Kreisen. Auf jüdischer Seite musste man sie als Bedrohung wahrnehmen.
Stimmt denn wenigstens die 2. Nero-Legende, dass der große Brand der Stadt Rom (64 n. Chr.) auf seine Anordnung gelegt worden ist, um Platz für eine von ihm geplante neue Palastanlage zu schaffen?
Mischa Meier: Das halte ich für völlig unglaubwürdig. Mir ist kein einziges antikes Zeugnis bekannt, mit dem man das plausibel begründen könnte.
Historisches Faktum ist, dass nach dem Brand mit dem Bau der Domus Aurea (Goldenes Haus) begonnen wurde, einer riesigen Palast-Anlage, die einen extravaganten mit Gold und Elfenbein und prächtigen Fresken und Mosaiken verzierten Palast mit über 300 Zimmern umfasste, einen künstlichen See und nicht zuletzt eine 35 hohen Statue des Kaisers.
ZDF-Mediathek: Neros Palast (2023) Schätze des Römischen Reichs
Die Überreste der nach dem Tod Neros zerstörten Palastanlage liegen heute noch unter mehreren Metern Schutt und werden erst heute langsam archäologisch erschlossen. Erwarten Sie sich davon noch neue Aufschlüsse?
Mischa Meier: Die archäologischen Forschungen zur domus aurea haben ja bereits einige sehr wichtige Ergebnisse erbracht, die es uns mittlerweile ermöglichen, dieses Bauwerk ein wenig besser einzuordnen und als Phänomen zu verstehen. Es werden im Laufe der Zeit sicherlich noch weitere Erkenntnisse hinzukommen – und natürlich wird das unser Bild noch differenzierter und komplexer gestalten. Kurzum: Ja, ich bin sicher, die Archäologen werden uns noch Überraschungen bieten.
Nero als Künstlernatur
Wenn wir es richtig verstehen, ist Ihre zentrale These: Man muss Nero als Künstler und als Künstlernatur verstehen.
Natürlich ist es immer gefährlich, heutige Begrifflichkeiten auf vergangene Zeiten anzuwenden. Darum zuerst einmal die Frage: Was verstand die römische Antike unter einem Künstler (artifex) ? Und was machte er?
Mischa Meier: Es gibt keine präzise Definition für ‚den‘ Künstler in der Antike. Man kann das Künstlertum auch nur schwer sozialhistorisch fassen, weil ja nicht nur professionelle Künstler (z.B. Schauspieler) unterwegs waren, sondern auch Aristokraten sich künstlerisch betätigt haben (allerdings ohne davon leben zu müssen). Nero hat im Grunde das getan, was viele aristokratische Zeitgenossen auch taten: dichten, theaterspielen, sich mit Wagenrennen vergnügen. Aber er hat es exzessiv getan, er hat es versucht, professionell zu tun – und damit vor einer großen Öffentlichkeit – und er hat es als Princeps getan.
Das Theater, so wie wir es heute kennen, also ein zweigeteilter Raum mit einer Bühne für die Schauspieler und Rängen für die Zuschauer, also das Amphitheater, ist eine Erfindung der alten Griechen. Auch die (noch heute gespielten) antiken Theaterstücke, Tragödien und Komödien, stammen alle von griechischen Autoren, nicht von römischen, die sie oft nur „umschrieben“.
Kann man sagen, dass die Römer es eigentlich nicht so mit dem Theater hatten und sich mehr für „Spiele“ in Arenen (wie dem Kolosseum in Rom) begeisterten, also Gladiatorenkämpfe, Wagenrennen, Tierhetzen etc. ?
Mischa Meier: Keineswegs. Die Römer hatten eine lebendige, sehr vielfältige Theaterkultur, die sich schon zur Zeit der Republik herausgebildet hatte und unterschiedliche Formen von Bühnenstücken – auch für unterschiedliche Ansprüche des Publikums – hervorgebracht hat.
Theateraufführungen waren im antiken Athen fester Bestandteil des öffentlichen Lebens. Wie muss man sich eine Theateraufführung zur Zeit Neros in Rom vorstellen? Und wer war das Publikum?
Mischa Meier: Anders als in Athen fehlte dem römischen Theater die zentrale, integrative und repräsentative politische Funktion. Das römische Theater diente aber keineswegs nur der Unterhaltung. Es wurden ja u.a. auch historische Stoffe auf die Bühne gebracht – aus dem Nero-Kontext wäre die Tragödie ‚Octavia‘ zu nennen (bei der allerdings diskutiert wird, ob sie für die Aufführung oder als reines Lesedrama verfasst wurde) – und mitunter gab es auch tagespolitische Bezüge. Das Publikum dürfte in der Regel gemischt gewesen sein, wird sich aber unterschieden haben, je nachdem, welche Art Theater aufgeführt wird: Es konnte auf der Bühne einerseits sehr ordinär zugehen, andererseits wurde aber auch hohe Literatur präsentiert. Das sind dann Geschmacksfragen.
(Männliche) Theaterschauspieler müssen (wie Gladiatoren) einen gewissen sex appeal gehabt haben. Die römischen Geschichtsschreiber, die ja gerne auch schon einmal schmutzige Details kolportiert haben, wissen von Sexaffären von hochgestellten Persönlichkeiten der römischen Stadtaristokratie mit Schauspielern zu berichten, bis hin zu Valeria Messalina, der ersten Frau von Kaiser Claudius.
Was ist davon zu halten? War das Rufmord, ein Latrinengerücht, ein rumor latrinae?
Mischa Meier: Es wird solche Affären gegeben haben, und in der Tat genossen einige Gladiatoren und Schauspieler eine Art Star-Status und wurden bewundert. Aber man darf nicht vergessen, dass sie dennoch grundsätzlich einen niedrigen sozialen Rang einnahmen und rechtlich eingeschränkt waren.
Messalina wiederum ist ein besonderer Fall: Ihr wurden in der Überlieferung zahllose Affären zugeschrieben, aber die Situation war komplexer. Gut möglich, dass sie sexuelle Verbindungen für machtpolitische Zwecke eingesetzt hat (das wäre auch nichts einmaliges gewesen); aber was man über sie in der Überlieferung findet, wird man mit großer Vorsicht genießen müssen: Da geht es in erster Linie darum, Claudius‘ Defizite in seiner Frau zu spiegeln. Der Kaiser erscheint als hilfloses Wesen, das den Freigelassenen und Frauen in seiner Umgebung geradezu hörig ist. Nach dieser Maßgabe werden die Figuren um ihn herum gezeichnet.
Kommen wir zu Nero. Welche Belege gibt es dafür, dass sich Nero als Künstler verstand?
Mischa Meier: Es gibt Selbstzeugnisse in Form kurzer Sprüche in der von Sueton verfassten Biographie (am berühmtesten seine angeblich letzten Worte „Welch ein Künstler geht mit mir zugrunde!“). Die sind natürlich problematisch. Aber sie tragen zu einem meines Erachtens stimmigen Gesamtbild bei, wenn man sie zusammen mit Neros Politik und seinen öffentlichen Auftritten betrachtet und mit der Weise, wie Nero von Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Da ist das Urteil ganz eindeutig: ein „Bühnenkaiser“.
Was wissen wir über Neros „künstlerische Produktion“?
Was machte er „als Künstler“?
Mischa Meier: Interessiert hat ihn vor allem die Literatur. Nero war ein – offenbar recht begabter – Dichter (leider ist so gut wie nichts erhalten). Erotische Dichtung, Spottepigramme, religiöse Lieder, Tragödien und vor allem Epik wurden von ihm verfasst. Dazu gehörte dann jeweils auch ein spezifischer Aufführungskontext (den Nero sich selbst situativ schuf), bei dem er dann mit seinen eigenen Werken (und auch den Texten anderer Dichter) auftrat und – das ist das Besondere – mit den Konventionen brach.
Peter Ustinov hat Nero als den Kithara (Leier) spielenden Kaiser dargestellt, der vor dem in Flammen aufgehenden Rom mit der Stimme des göttlichen Apollo sang. Die Frage nach dem Brand haben wir geklärt, bleibt die Leier.
Was genau war diese Kithara?
Mischa Meier: Ein Saiteninstrument, das schon die Griechen kannten. Es war dem Gott Apollon heilig (der Musengott, zu dem auch Nero eine besondere Nähe pflegte), lag in unterschiedlichen Bauformen vor (mal mehr, mal weniger als die üblichen sieben Saiten) und wurde zur Begleitung von Dichtungsvorträgen vom Sänger selbst gespielt. Im Gegensatz zur kleineren Lyra galt die Kithara als etwas vulgärer.
Aus dem Griechischen stammt der Begriff des Kitharöden, einem Kithara spielenden Künstler, der eigene Texte vortrug. Heute wäre das ein Gitarrenspieler mit selbst verfassten Texten, ein singer-songwriter. Müssen wir uns Nero so vorstellen?
Mischa Meier: Es ist immer schwierig mit solchen Parallelen und Vergleichen – aber es ist in der Tat so, dass der Kitharöde durch die Lande zog und eigene (oder fremde) Dichtungen und Lieder vortrug und dabei musikalisch untermalte. Daran hat auch Nero sich orientiert; aber man darf bei ihm nie den außergewöhnlich hohen künstlerischen Anspruch vergessen, den er an sich selbst stellte.
In Neapolis (Neapel) rief Nero im Jahr 65 n. Chr. die „Neronia“ (Neronischen Spiele) ins Leben. Was kann man sich darunter vorstellen? Ein Theaterfestival, Bühnenweihfestspiele? Und warum in Neapel?
Mischa Meier: Die ‚Neronia‘ hat Nero bereits im Jahr 60 erstmals ausgerichtet, allerdings noch in einem halböffentlichen Rahmen, so das seine eigenen Auftritte nicht ganz so skandalös wirken mussten. Das war bei den zweiten ‚Neronia‘, die im Jahr 65 in Rom stattfanden, dann anders. Dazwischen lag sein Auftritt in Neapel im Jahr 64. Hier erprobte der Kaiser erstmals einen Bühnenauftritt vor einer uneingeschränkten Öffentlichkeit. Neapel war ein Zentrum der griechischen Kultur. Das erklärt die Wahl des Ortes: Nero ging davon aus, dass ein Publikum, das eine gewisse Griechenland-Affinität besaß und damit dem musischen Bereich eher zugeneigt galt, seine Darbietungen höher schätzen würde als ein rein römisches Publikum. Außerdem dachte er damals bereits über eine Reise nach Griechenland nach.
Es ist zu lesen, dass Nero im Jahr 66. n. Chr. sogar eine einjährige (sic) „Tournee“ durch Griechenland unternommen habe, wo er an verschiedenen Orten als Künstler aufgetreten sein soll. Historische Wahrheit oder Unsinn, der sich im Internet findet ?
Mischa Meier: Nero war tatsächlich in Griechenland, ist dort bei verschiedensten Wettbewerben aufgetreten (deren Termine teilweise extra für seine Anwesenheit verlegt werden mussten) und soll jedes Mal den Siegespreis davongetragen haben – insgesamt 1808 Siege, wie es in der Überlieferung heißt. Aber wer hätte dem Kaiser auch den Sieg verwehren wollen? Die Griechenlandreise wurde, wenn wir den Quellen trauen dürfen, von einigen bizarren Szenen begleitet (z.B. ein schwerer Sturz beim Wagenrennen, das er aber trotzdem gewonnen haben soll). Römische Zeitgenossen haben offenbar – so viel geht aus den Quellen noch hervor – nur noch den Kopf geschüttelt über dieses Verhalten; und auch in Griechenland war man nicht überall glücklich. Denn die Provinzialbevölkerung hatte den größten Teil der Kosten der Reise zu tragen und Nero und seine Entourage haben sich offenbar hemmungslos an den örtlichen Kunstschätzen bedient.
Kann man sagen, dass Nero es ganz einfach liebte, sich vor Publikum zu produzieren?
Mischa Meier: Uneingeschränkt: Ja. Er brauchte das große Publikum.
Wie haben die Zeitgenossen darauf reagiert?
Mischa Meier: Unterschiedlich. Konservative Zeitgenossen, v.a. in senatorischen Kreisen (das ist uns am besten dokumentiert) waren entsetzt (v.a. Tacitus). Andere haben sich amüsiert und durchaus mitgemacht (und zwar auch Ritter und Senatoren). Die breite Bevölkerung Roms war offenbar recht angetan von den neuartigen Inszenierungen, die ihr geboten wurden.
Wäre da noch die Apollon-Frage.
Viel über die Geschichte Roms lässt sich an Münzen ablesen/erkennen, in Ermangelung schriftlicher Quellen oft die einzigen erhaltenen Zeugnisse historischer Sachverhalte.
Es gibt eine Bronzemünze, die die Numismatiker auf das Jahr 64-66 datieren, die auf der Vorderseite Nero und auf der Rückseite den Kithara (Leier) spielenden Gott Apollo zeigen.
(Ein Exemplar dieser Münze wird im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart (Inventarnummer MK 20790) bewahrt.)
Was wollte das den Zeitgenossen sagen?
Mischa Meier: Apollon war der Musengott, er war in der Lage, künstlerische Begabung zu verleihen, Künstler assoziierten sich mit ihm. Gleichzeitig war er Sonnengott und stand damit in alter Tradition für die Monarchie schlechthin. Hinzukam, dass schon Augustus sich eng mit Apollon assoziiert hatte. Indem er sich ebenfalls eng mit diesem Gott in Verbindung gebracht hat, hat Nero also eine ganze Reihe von Assoziationsketten bei Zeitgenossen aufgerufen. Interessant an den Münzen ist, dass nicht klar ist, wer eigentlich dargestellt ist: Nero? Apollon? Beide? Diese Ambiguität ist kein Zufall. Nero hat Transgressionen dieser Art gesucht und bewusst inszeniert. Er wollte nicht nur wie Apollon sein bzw. wahrgenommen werden, er wollte als Apollon gesehen werden.
Nun ist der Apollo-Kult, also die Verehrung des Dichter- und Musikgottes, den die Griechen Apollon nannten, keine Erfindung Neros. Schon unter Kaiser Augustus war ein Apollotempel an prominentem Ort in Rom (Palatin) errichtet worden.
Aber bei Nero scheint das eine andere Dimension zu haben. Sah sich Nero als Nachfahre, Wiedergeburt des Gottes Apollon, ja sich selbst als göttlich?
Mischa Meier: Als Musengott und (in zweiter Linie) als Sonnengott war Apollon seine zentrale Referenz im Götterhimmel. Das zeigt sich schon in den literarischen Zeugnissen seiner frühesten Regierungsjahre und bleibt bis zum Ende so. Sein ‚Triumphzug‘ nach der Griechenlandreise, der keine Trophäen nach einem erfolgreich beendeten Krieg präsentierte, sondern die Siegespokale seiner Tournee, endete nicht – wie es der Tradition entsprochen hätte – am Jupitertempel auf dem Kapitol, sondern am Apollontempel.
Künstler haben es eher nicht so mit dem Militärischen, vom militärischen Decorum einmal abgesehen. Das römische Imperium war aber nun ganz wesentlich eine Militärmacht, die quasi permanent Krieg führte, und der Kaiser/Imperator oberster Heerführer. War das mit Nero ein Problem?
Mischa Meier: Seine fehlende militärische Erfahrung brachte ihm aus Sicht der Zeitgenossen ein Legitimationsproblem ein. Römische Kaiser mussten auch als fähige Heerführer anerkannt sein und überzeugen. Dieses Problem dürfte hinter der aggressiven Partherpolitik gestanden haben, die auffälligerweise gleich mit seiner Thronbesteigung einsetzt. Obwohl die militärischen Erfolge bescheiden blieben, hat Nero sich sehr früh einen Triumphbogen errichten lassen.
Welche Rolle spielte das Militär während der Regentschaft Neros?
Mischa Meier: Das Militär blieb weitgehend ruhig, bis es im Jahr 68 mit in den Strudel der allgemeinen Auflösungserscheinungen gerissen wurde – allerdings setzten die Abfallprozesse erst sehr spät ein und betrafen nie das gesamte Militär. Insgesamt gesehen konnte Nero auf seine Soldaten zählen.
Eine der großen militärischen Niederlagen des römischen Imperiums war das, was als „Varusschlacht“ (9 n. Chr.) im Teutoburger Wald in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Danach blieb der Rhein die Grenze, linksrheinisch war römisches Reich, rechtsrheinisch das nicht eroberte Gebiet der Germanen. Und Köln wurde später Hauptstadt der römischen Provinz Germania inferior (Niedergermanien), womit der Aufstieg der (römischen) Stadt am Rhein begann.
Zu Köln hatte Nero durchaus einen familiären Bezug. Es war sein Urgroßvater mütterlicherseits, Marcus Vipsanius Agrippa (64 v. Chr. – 12. v. Chr.), Feldherr und rechte Hand von Kaiser Augustus, der den Germanenstamm der Ubier umsiedelte und diese linksrheinisch im Oppidum Ubiorum ansiedelte.
Sein Großvater Germanicus übernahm nach der verlorenen Varusschlacht den Oberbefehl am Rhein und startete mit den Germanicus-Feldzügen großangelegte Vorstöße gegen die Germanenstämme, die aber letztlich erfolglos blieben.
Seine Mutter, Agrippina d.J., wurde im Jahr 15 oder 16 n. Chr. in Köln (Oppidum Ubiorum) geboren und setzte 50 n.Chr. bei ihrem (dritten) Ehemann, Kaiser Claudius, durch, dass die Siedlung als Colonia Claudia Ara Agrippinensium (CCAA) zur römischen Stadt erhoben wurde.
Nero selbst war nie in CCAA oder der römischen Provinz Germania inferior (Niedergermanien). Weiß man, wie er Köln oder das Germanen-Problem sah?
Mischa Meier: Neros Mutter Agrippina besaß eine germanische Leibwache, die Nero ihr im Zuge des sich zuspitzenden Mutter-Sohn-Konfliktes wegnahm. Eine besondere Beziehung zur Stadt Köln besaß er nicht. Germanen spielten für ihn als ‚Germanen‘ keine besondere Rolle. Ernsthafte Auseinandersetzungen gab es unter seiner Herrschaft Anfang der 60er Jahre mit keltischen Gruppen in Britannien (der sogenannte Boudicca-Aufstand).
Die Ermordung Agrippinas
Im Jahr 59 n. Chr., da war er 22 Jahre alt und seit fünf Jahren Kaiser, ließ Nero seine Mutter ermorden.
Eigentlich verdankt Nero, der Sohn aus erster Ehe, ja seiner Mutter Agrippina d. J., dass er überhaupt römischer Kaiser geworden ist. Dafür musste Agrippinas Ehemann Nr. 2 aus dem Leben scheiden, Agrippina ihren Onkel, Kaiser Claudius, heiraten, den davon überzeugen, dass er Nero und nicht seinen eigenen leiblichen Sohn zum Nachfolger bestimmte und schließlich verschwanden auch noch dieser Sohn und Claudius selbst von der Bühne des Lebens, woran Agrippina nicht unbeteiligt gewesen sein soll. Blutiger sind Machtgelüste nur bei Shakespeare.
Es gibt eine Goldmünze, die die Numismatiker auf das Jahr 54 n. Chr. datieren und wovon es ein Exemplar im Römisch-Germanischen Museum in Köln gibt (Inventarnummer 2007,6). die Nero und Agrippina im Halbportrait einander zugewandt zeigen.
MK-K-RGM | Agrippina und Nero, Aureus 54 n. Chr.
Mischa Meier: Die Münze, ein Aureus aus dem Jahr 54, muss seinerzeit einen erheblichen Skandal verursacht haben. Dass der Kaiser mit einer anderen Person – einer Frau – auf derselben Ebene gezeigt wurde, dass die andere Person im Nominativ, der Kaiser nur im Dativ genannt wurde, war unerhört. Die Münze bezeugt Agrippinas Macht zu Beginn des neronischen Prinzipats – aber sie wurde nicht lange geprägt, und Nero hat schon Anfang 55 damit begonnen, die Kreise seiner Mutter einzuhegen.
Ein Mutter-Sohn-Duo war das also nie? Wie muss man sich das Verhältnis Nero-Agrippina vorstellen?
Mischa Meier: Agrippina war eine dominante Mutter, die schon früh erkennen ließ, dass sie Nero auf den Thron bringen wollte, um ihre eigene Position zu festigen. Am Anfang funktionierte das leidlich, aber schon nach wenigen Wochen kam es zu Konflikten. Dabei spielten auch die Interessen anderer Figuren am Hof eine wichtige Rolle. Jeder versuchte seine Stellung zu stärken. Das Intrigenspiel fokussierte sich rasch auf einen Mutter-Sohn-Konflikt, der in der Tragödie im März 59 endete, als Nero Agrippina ermorden ließ.
Gewöhnlich wird die Ermordung Agrippinas damit erklärt, dass der junge Kaiser nun endlich allein entscheiden und regieren wollte, ohne den Einfluss seiner Mutter oder der von ihr eingesetzten Erzieher und Berater, wie dem berühmten Philosophen Seneca.
Ihre wohl erstaunlichste These ist hingegen, dass diese Ermordung seiner Mutter, wie auch die Hinrichtungen der Christen, Inszenierungen seien, die sich an der (griechischen) Mythologie und Tragödien orientieren sollen.
Das müssen sie erklären.
Mischa Meier: Die Ermordung selbst war natürlich keine Inszenierung, sondern echt, und sie folgte verschiedenen – auch machtpolitischen – Interessen. Aber die Art und Weise, wie Nero den Mord angelegt hat – ein künstlich präpariertes Schiff, das unterwegs auseinanderbrechen sollte –, war eine künstlerische Inszenierung, die Eindruck machen sollte – und ihre Wirkung auf Zeitgenossen auch nicht verfehlt hat.
Aber Sie wollen nicht wirklich sagen, dass Nero diese Ermordungen als Kunst sah?
Mischa Meier: Er hat den Muttermord zumindest so inszeniert und Tacitus hat das Arrangement auch so verstanden.
Würden Sie so weit gehen und sagen, dass Nero am Ende ein Mann war, der nur noch in (s)einer Kunstwelt lebte, und damit eben doch der geistige Verwirrte war, der Realität und Illusion nicht mehr unterscheiden konnte (also letztlich so wie ihn Peter Ustinov dargestellt hat)?
Mischa Meier: Nein, denn ich glaube, dass die Transgressionen, die er produzierte, gezielt gesucht waren. Die Erklärung ‚verrückt‘ ist mir (1) zu einfach und (2) mit dem uns heute vorliegenden Material weder verifizier- noch falsifizierbar und damit untauglich.
In einer Zeit, in der die Ermordung politischer Rivalen, die einem die Macht streitig machen konnten, sogar eigener Familienmitglieder (Brüder), keine Seltenheit waren, war die Ermordung der eigenen Mutter dennoch ein Skandal. Warum?
Mischa Meier: Aus römischer Perspektive war die Ermordung von Elternteilen ein besonderes, nicht sühnbares Verbrechen. Das zeigt die Überlieferung zu Nero auch sehr deutlich.
Kann man sagen, dass es seine Künstlernatur war, die Nero letztlich zum Verhängnis wurde?
Irgendwann wurde es dem römischen Establishment, also den alten römischen Adelsfamilien, die den Senat beherrschten, zu viel mit dem Künstler-Kaiser.
65 n. Chr. kam es unter dem Senator Gaius Calpurnius Piso zu einem ersten Versuch, Nero zu ermorden. Der Versuch, der als Pisonische Verschwörung in die Geschichtsbücher eingegangen ist, scheiterte.
Drei Jahre später, 68 n.Chr.,erklärte der Senat Nero für abgesetzt. Seiner Festnahme entzog er sich durch Selbstmord.
Mischa Meier: Ja, letztlich wurde ihm das Künstlertum zum Verhängnis, weil er immer mehr Zeit und Ressourcen darein investierte und – schließlich für alle Zeitgenossen deutlich – die eigentlichen Aufgaben eines Princeps sträflich vernachlässigte. Hätte er das Künstlertum nicht in der Ausschließlichkeit betrieben, wie er es am Ende tat, wären auch auf der anderen Seite vielleicht noch Kompromisse möglich gewesen. Das Problem war der Exzess.
Aber das Ende war schon ein ganz banaler, erzwungener Selbstmord, kein künstlerischer Akt… ?
Mischa Meier: Ja. Am Ende ging alles schief.
Wer mehr wissen will
Mischa Meier
Die neronische Christenverfolgung und ihre Kontexte
Universitätsverlag Winter Heidelberg 2021
Mischa Meier
Nero – kaiserlicher Künstler oder Despot?
In: A. Krischer/B. Stollberg-Rilinger (Hgg.),
Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin
C.H. Beck 2023
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Prof. Dr. Mischa MEIER
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