Das International Baccalaureate öffnete Schülern in Russland das Tor zu ausländischen Universitäten. Nun wurde es verboten, weil es sich gegen die russischen Werte richte.

Russische Schulabgänger nehmen in St. Petersburg an ihrer Abschlussfeier teil. Künftig stehen manchen von ihnen weniger Möglichkeiten offen. Russische Schulabgänger nehmen in St. Petersburg an ihrer Abschlussfeier teil. Künftig stehen manchen von ihnen weniger Möglichkeiten offen.

Artem Pryahin / Imago

Tausende von Schulen in ganz Russland bereiten sich nach den mehr als dreimonatigen Sommerferien auf den 1. September vor, den «Tag des Wissens». 29 Bildungseinrichtungen, die das International Baccalaureate (IB) anbieten, ein englischsprachiges Ausbildungsprogramm mit weltweiter Anerkennung, befinden sich jedoch wenige Tage vor dem ersten Schultag im Schockzustand. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat die Organisation, die hinter dem IB steht, eine Schweizer Stiftung mit Sitz in Genf, für «unerwünscht» erklärt. Die Einstufung kommt einem Verbot gleich. Wer mit ihr zusammenarbeitet, sie finanziert oder gar führt, macht sich strafbar.

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Beliebt in der russischen Elite

Wenige Tage vor Schulbeginn stehen Lehrer, Eltern und Schüler vor grosser Ungewissheit. Eltern könnten wegen des Schulgelds und Lehrer wegen ihrer Unterrichtstätigkeit belangt werden, Schülern und selbst Ehemaligen die Verbindungen zu ihrer Unterrichtsstätte zum Verhängnis werden. Schulen mit IB richteten sich nur an eine sehr spezifische Schicht von Schülern – Kinder von Expats oder aus international orientierten Familien, aber auch von wohlhabenden Russen, die ihrem Nachwuchs mit dem international anerkannten Schulabschluss den Weg zu den weltweit besten Universitäten öffnen und sie dem Zugriff des staatlichen Schulsystems entziehen wollten.

Unter ihnen befinden sich nicht wenige Angehörige der politischen und wirtschaftlichen Elite. Einige von ihnen halfen sogar mit, solche Schulen zu gründen. Bis zum Grossangriff auf die Ukraine vor dreieinhalb Jahren boten allein in Moskau fast dreissig staatliche und mehrere Dutzend private Schulen das IB an. Durch den Exodus ausländischer Geschäftsleute und russischer Kriegsgegner brachen Schülerzahlen ein und wurden Schulen geschlossen. Andere mussten auf Druck der Behörden ihren Betrieb einstellen. Die Privatschule Letowo am südlichen Rand Moskaus führt derzeit gar das Ranking der besten privaten IB-Schulen der Welt an.

Kampagne für «traditionelle Werte»

Die Idee, Kindern «internationales Denken» zu vermitteln und sie, wie es in der Beschreibung des IB-Fachs «Theorie des Wissens» heisst, dazu zu ermuntern, engagierte Weltbürger zu werden, widerstrebt jedoch dem antiwestlichen Zeitgeist in Russland. Auch ein ganz anderes Geschichtsbild wird vermittelt. Der früheren Kinderschutzbeauftragten und heutigen Vizevorsitzenden der Staatsduma, Anna Kusnezowa, und ihrer vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagten Nachfolgerin Maria Lwowa-Belowa waren diese Schulen seit längerem ein Dorn im Auge, wie die russische Exilplattform «T-Invariant» berichtet.

Kusnezowa strengte bereits im vergangenen Jahr Überprüfungen in allen russischen IB-Schulen an. Nach der Einstufung des IB als «unerwünscht» schrieb Kusnezowa auf ihrem Telegram-Kanal voller Genugtuung, «mit vereinten Kräften» hätten sie dieses Ziel erreicht. Die betroffenen Schulen seien nun gezwungen, ihre Zusammenarbeit mit der IB-Organisation einzustellen, die den Kindern so viel Schaden zufüge und dem Erlass Präsident Wladimir Putins über die geistig-moralischen Werte widerspreche.

Die Generalstaatsanwaltschaft hatte in ihrer Begründung für die Einstufung geschrieben, Vertreter der IB-Organisation verwirklichten unter dem Deckmantel von Bildungsprogrammen «russophobe Projekte», entstellten historische Tatsachen und heizten interethnische Feindseligkeiten an. Den Abiturienten würden «nichttraditionelle Werte» aufgezwungen, die auf der Ideologie verbotener extremistischer Vereinigungen beruhten. Gemeint ist damit die in Russland verbotene – als solche gar nicht existierende – «internationale LGBTQ-Bewegung». Auch von «Diskreditierung der Armee» an IB-Schulen war die Rede. Darunter fällt jegliche Abweichung vom offiziellen Diskurs über Russlands Krieg gegen die Ukraine und Kritik am herrschenden Regime.

Kampf gegen Andersdenkende

Aus dessen Sicht ist das Verbot international ausgerichteter Bildungsprogramme nur konsequent. Der Krieg gegen die Ukraine wird im Innern Russlands als Krieg gegen Andersdenkende geführt, die sich an freiheitlichen gesellschaftlichen und politischen Ideen orientieren. Sie lehnen das militaristische, ultranationalistische und ultrakonservative Weltbild ab, das Vertreter des Regimes für «patriotisch» halten und als etwas einzigartig Russisches überhöhen.

In den vergangenen dreieinhalb Jahren tat der Staat einiges, um die Universitäten und die wissenschaftliche Forschung, aber auch die Schulen und Kindergärten entsprechend auf Linie zu bringen. Kinder- und Jugendorganisationen wie die Nachfolgeorganisation der sowjetischen Pioniere, «Bewegung der Ersten», und die Jugendorganisation der Armee, Junarmija, wurden neu aufgebaut oder gestärkt. Im Unterricht wurden neue Fächer eingeführt, die diese «patriotischen» Werte vermitteln sollen.

Bildungseinrichtungen auf russischem Boden, die nach ganz anderen Konzepten arbeiten, die Freiheit des Individuums ins Zentrum stellen und Initiativgeist und internationale Orientierung fördern wollen, stehen quer dazu. Nach 2022 wurde auch das Bologna-System an den Universitäten abgeschafft, das den internationalen Austausch erleichtert.

Immer weniger Freiräume

Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis weitere Bildungseinrichtungen mit Beziehungen ins Ausland, ausländische Universitäten und internationale Austauschprogramme ein ähnliches Schicksal wie das IB erleiden. Die amerikanische Universität Yale und der British Council, der den Englischtest IELTS anbietet, sind ebenfalls für «unerwünscht» erklärt worden. Russische Politiker und Propagandisten fordern regelmässig dazu auf, den Englischunterricht abzuschaffen. Bereits wurde er mancherorts reduziert.

Manche der Schulen haben bereits jegliche Hinweise auf das IB in ihren Internetauftritten gelöscht. Selbst wenn sie versuchen, die IB-Standards unterschwellig weiterzuführen, wird es zu einer Verschlechterung des Unterrichts führen, ganz abgesehen davon, dass das IB ein Türöffner zur weltweiten Bildung ist, der den Absolventen in Russland nun verwehrt ist. So schwinden weitere der wenigen noch verbliebenen Freiräume in Russland, die die Kinder vor der staatlichen Indoktrination schützen.