Seile, Masten, Acrylglas: Wie das Zeltdach 1972 entstand und warum es bis heute ein Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst ist.
Das Zeltdach des Olympiastadions in München setzte Anfang der 1970er-Jahr Maßstäbe in vielerlei Hinsicht.
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Als München im Jahr 1966 den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 1972 erhielt, stand die Stadt vor einer großen Aufgabe. Ein neues Stadion musste her, dazu weitere Sportstätten. Doch es sollte mehr sein als nur ein Bauprojekt. Die Architektur sollte Demokratie und Offenheit symbolisieren – ein bewusster Gegenentwurf zu den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin.
Die Verantwortlichen entschieden sich für das Oberwiesenfeld, ein weitgehend unbebautes Areal in Zentrumsnähe. Hier sollte ein Park entstehen, eingebettet in künstlich modellierte Hügel und mit einem See. Und mittendrin: Stadion, Olympiahalle und Schwimmhalle. Was all diese Gebäude zusammenhalten sollte, war eine Dachidee, die es in dieser Form noch nie gegeben hatte.
Das Zeltdach des Olympiastadions entstand mit Hilfe damals neuartiger, speziell für dieses Bauwerk entwickelter Techniken. Viele dieser Innovationen setzten später Maßstäbe für den Bau von Dächern und Brücken. Die beim Projekt gewonnenen Erfahrungen wurden systematisch ausgewertet und wissenschaftlich vertieft. In Kooperation mit den beteiligten Planungsbüros richtete die Universität Stuttgart dafür eigene Sonderforschungsbereiche ein.
Vom Strumpfmodell zur Realität
Den entscheidenden Impuls gab Cord Wehrse, ein Mitarbeiter im Büro von Günter Behnisch. Er hatte Frei Ottos Zeltdach auf der Weltausstellung 1967 in Montreal gesehen und schlug eine ähnliche Lösung für München vor.
Das Modell, das Behnisch & Partner im Wettbewerb einreichten, war unkonventionell. Statt fester Materialien nutzten sie Holzstäbchen für die Masten und einen Nylonstrumpf für das Dach. Die Jury war skeptisch, doch der renommierte Architekt Egon Eiermann setzte sich für das Konzept ein. Schließlich gewann der Entwurf den Wettbewerb – trotz aller Zweifel.
Behnisch holte Frei Otto ins Team. Otto war Pionier des Leichtbaus. Er arbeitete mit Strukturen, die sich an Spinnennetzen oder Pflanzen orientierten. Wenig Material, viel Fläche – das war sein Prinzip. Mit Bauingenieuren wie Fritz Leonhardt, Wolfhardt Andrä und Jörg Schlaich entwickelte er das Dach, das später zum Wahrzeichen Münchens wurde.
Teilweise hochgezogenes Stahlnetz des Olympiadaches. Aufnahme von 1971.
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Konstruktion wie ein Spinnennetz
Das Olympiadach überspannt insgesamt 74.800 Quadratmeter. Es deckt die Olympiahalle, die Schwimmhalle, Teile des Stadions und die dazwischenliegenden Wege ab. Allein über dem Stadion sind es 34.550 Quadratmeter – also fast die Hälfte der Gesamtfläche.
Anders als klassische Dächer ist es keine massive Fläche, sondern ein vorgespannter Seilkörper. Die Grundidee: Seile übernehmen Zugkräfte, Masten leiten Druckkräfte in den Boden ab. Dazwischen entsteht ein Netz, das leicht wirkt, aber enorme Lasten tragen kann.
Winden für die Vorspannung des Daches des Olympiastadions mit den provisorischen Stützen für das Ringseil im Hintergrund. Aufnahme von 1971.
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Die technischen Besonderheiten im Überblick
Das Zeltdach des Olympiastadions hat einige technischen Neuerungen zu bieten und war somit Vorreiter für zahlreiche Nachfolgebauten. Hier ein kurzer Überblick:
- Das Seilnetz: Die Ingenieure flochten am Boden ein Netz aus Stahlseilen. Jedes Seil war hochfest, die Knotenpunkte lagen im Abstand von 75 Zentimetern. So entstanden über 137.000 Verbindungen. Erst als das Netz fertig war, hoben Kräne es Stück für Stück in die Höhe.
- Knoten und Beweglichkeit: Die Knoten mussten zweierlei leisten: Sie sollten die Seile festhalten, gleichzeitig aber minimale Bewegungen zulassen. Wind oder Schnee bringen das Dach ständig in Bewegung. Diese Elastizität war bewusst eingeplant, um Schäden zu vermeiden.
- Masten und Pylonen: 58 Stahlmasten tragen das Netz. Zwölf von ihnen sind konische Pylonen mit bis zu 80 Metern Höhe. Besonders über dem Stadion mussten die Kräfte gezielt verteilt werden, da Stützen im Zuschauerbereich unerwünscht waren. Über der Haupttribüne spannten die Ingenieure deshalb ein 440 Meter langes Rundseil, das die Dachlast aufnimmt und nach außen ableitet.
- Anker im Boden: Die enormen Zugkräfte enden in Betonblöcken von bis zu 4000 Tonnen Gewicht. Einige sind 30 Meter tief im Boden eingelassen. Diese Anker verhindern, dass das Dach aus dem Boden gezogen wird. Sie wirken wie Gegengewichte, die den Seilkörper stabilisieren.
- Die Dachhaut: Über das Netz legte man 4 mm dicke Acrylglasplatten. Jede misst etwa 3 × 3 Meter. Sie wurden mit Klemmen an den Seilknoten befestigt und leicht überlappend montiert. Das Material war schwer entflammbar, lichtdurchlässig und dennoch robust. Für Sonnenschutz sorgte eine leichte Grautönung.
- Lasten und Sicherheit: Das Dach ist für extreme Bedingungen ausgelegt. Es hält Windgeschwindigkeiten über 100 km/h stand und trägt Schneelasten von mehreren Hundert Kilogramm pro Quadratmeter. Statt starr zu sein, bewegt es sich mit – wie ein Segel im Wind.
Im Vordergrund ist einer der Betonblöcke zu sehen, mit denen die enormen Zugkräfte des Zeltdachs abgefangen werden.
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Bau mit Experimentcharakter
Die Realisierung war ein Wagnis. Vergleichbare Dächer gab es bis dahin nur in viel kleinerem Maßstab. Ursprünglich kalkulierte die Olympia-Baugesellschaft mit 40 bis 45 Millionen D-Mark. Am Ende kostete das Dach 170,6 Millionen. Ein geplanter Ostdach-Abschnitt konnte deshalb nicht umgesetzt werden.
Trotz der Kostenexplosion blieb der Zeitplan erhalten. Am 21. April 1972 – wenige Monate vor Beginn der Spiele – war das Dach fertig.
Hier werden die Acrylglasplatten am Stahlnetz befestigt.
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Ein Symbol für heitere Spiele
Die Spiele von 1972 standen unter dem Motto „heitere Spiele“. Das Dach sollte Transparenz und Leichtigkeit symbolisieren. Es verband die Sportstätten miteinander und stand für das Konzept der „kurzen Wege“.
David Binder von der New York Times schrieb damals: „Das auffallende strukturelle Symbol der Spiele bietet durch anmutigende Vertiefungen und kühne Kurven die aufregendsten Perspektiven des Olympiaparks.“
Damit war das Dach nicht nur Ingenieurleistung, sondern auch politisches Statement: Es sollte einen klaren Bruch mit der Architektur der NS-Zeit markieren. Die Bauten für die Olympiade 1936 in Berlin waren doch eher monumental.
Das Zeltdach des Olympiastadions hat auch 50 Jahre nach der Fertigstellung nichts von seiner Eleganz und Leichtigkeit verloren.
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Nutzung und Kritik
So innovativ das Dach war, es hatte auch Nachteile. Nur ein Teil der Tribünen ist überdacht. Zuschauerinnen und Zuschauer waren oft Regen oder Sonne ausgesetzt. Die Stimmung bei Fußballspielen litt darunter.
Trotzdem schrieb das Stadion Geschichte: 1974 gewann die deutsche Nationalmannschaft hier den WM-Titel. Der FC Bayern München spielte bis 2005 im Olympiastadion, bevor er in die Allianz Arena umzog. Auch Konzerte, Leichtathletik-Wettkämpfe und kulturelle Veranstaltungen fanden statt.
Seit 1997 stehen Stadion und Dach unter Denkmalschutz. 2002 mussten die Acrylglasplatten ersetzt werden, da sie durch Oxidation milchig geworden waren. Heute ist das Dach nicht nur architektonisch interessant, sondern auch touristisch: Besucherinnen und Besucher können es kletternd erkunden und per Seilrutsche ins Stadion hinabgleiten.
Internationale Wirkung
Das Münchner Dach wurde weltweit zum Vorbild. In Riad entstand das König-Fahd-Stadion mit ähnlicher Konstruktion. Auch moderne Projekte wie der geplante Google-Campus in Kalifornien erinnern an München.
Frei Otto erhielt 2015 posthum den Pritzker-Preis, die bedeutendste Auszeichnung für Architekt*innen. Die Jury würdigte ihn als „Erschaffer von denkwürdigen Gebäuden und Räumen“. Das Münchner Olympiadach ist sein bekanntestes Werk.
Ein Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst
2023 wurde das Zeltdach offiziell als „Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland“ ausgezeichnet. Damit würdigte die Bundesingenieurkammer ein Bauwerk, das nicht nur Sportgeschichte schrieb, sondern auch Ingenieurgeschichte.
Heute, über 50 Jahre nach seiner Fertigstellung, wirkt das Dach immer noch modern. Es zeigt, wie viel Mut, Experimentierfreude und technische Präzision in den Bau geflossen sind.