Europas Wirtschaft wächst kaum. Geopolitisch ist die Europäische Union zur „Zuschauerin“ (Mario Draghi) geworden. Wirtschaftsnobelpreisträger Jean Tirole spricht davon, dass Europa zur „Kolonie“ eines anderen Landes werden könnte. Es mangelt nicht an drastischen Warnungen vor Europas Abstieg. Kaum jemand streitet noch ab, dass die EU und allen voran ihre beiden größten Volkswirtschaften, Deutschland und Frankreich, dringend einen radikalen Reformkurs einschlagen müssen. Aber was genau muss geschehen?
Die deutsche und die französische Regierung haben vor ihrem Ministertreffen an diesem Freitag unabhängige Ökonomen beider Länder beauftragt, Reformvorschläge in fünf zentralen Politikfeldern zu erarbeiten. Unter dem Dach des Deutsch-Französischen Rats der Wirtschaftsexperten ist ein Dossier entstanden, das der F.A.Z. vorab vorliegt.
Monika Schnitzer, die Vorsitzende des Sachverständigenrats und Koordinatorin auf deutscher Seite, sagt: „Es gibt nur ein kleines Zeitfenster, etwas zu bewegen.“ Vom kommenden Sommer an werde in Frankreich zu sehr auf die Präsidentschaftswahlen 2027 geschaut. Und dass Frankreichs Premierminister François Bayrou am 8. September die Vertrauensfrage stellen will, mache die Situation nicht leichter. „Jetzt muss etwas passieren, das ist eine historische Chance“, sag Schnitzer.
Arbeitsmarkt
Anreize für eine Frühverrentung abschaffen, Ehegattensplitting und beitragsfreie Krankenversicherung für nicht erwerbstätige Ehepartner einschränken, außerdem bessere Bildung und Förderung für Geringqualifizierte – das sind zentrale Empfehlungen des deutsch-französischen Ökonomenrats zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Sie stehen unter dem Leitbild, in beiden Ländern Beschäftigung zu steigern und Hindernisse abzubauen, die individuellen Wünschen nach mehr Erwerbsarbeit im Weg stehen. Auf deutscher Seite wirkte daran neben der Vorsitzenden des Sachverständigenrats, Schnitzer, und ihrem Ratskollegen Martin Werding auch Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit.
Ein Vergleich der Länder zeigt, dass in Deutschland die durchschnittliche Jahresarbeitszeit je erwerbsfähigen Erwachsenen mit 1070 Stunden höher ist als in Frankreich mit 990. In Deutschland ist ein höherer Anteil der Menschen in Arbeit, die Arbeitslosigkeit ist niedriger. Erwerbstätige Franzosen arbeiten jedoch seltener in Teilzeit als Deutsche. Das gilt besonders für Frauen in der Altersgruppe von 30 bis 54 Jahren. In Frankreich gehen indes vor allem Arbeitskräfte unter 30 und über 60 Jahre deutlich häufiger gar keiner Erwerbsarbeit nach, wie der Rat darlegt.
Mit Blick auf Deutschland stechen die Ratschläge zum Ehegattensplitting und zur Krankenversicherung heraus. Deren bestehende Regelungen erschweren nach Ansicht der Ökonomen eine stärkere Erwerbstätigkeit von Frauen. Zudem sprechen sich die Fachleute ausdrücklich für die weitgehende Abschaffung der sogenannten Rente ab 63 aus.
Aber auch Frankreich habe da Luft nach oben. Die größte Aufgabe bestehe dort aber darin, etwas gegen die Abkoppelung gering qualifizierter junger Männer vom Arbeitsmarkt zu tun. Nach Einschätzung des Rates geht es dabei vor allem um bessere Bildung, vielleicht auch nach Vorbild des deutschen Berufsbildungssystems, sowie um den Schutz vor Diskriminierung. Die Höhe von Arbeitskosten sei nicht das zentrale Problem.
Wirtschaftswachstum
Die Ökonomen schlagen in ihren Reformanstößen vor, dass Berlin und Paris gemeinsame Institutionen schaffen, die als Wachstumsmotor der Nukleus einer künftigen europäischen Lösung sein könnten. In Anlehnung an das amerikanische Vorbild DARPA solle eine finanziell gut ausgestattete gemeinsame Forschungsagentur gezielt technische Durchbrüche erarbeiten – etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI), bei Halbleitern und für die Verteidigung.
Ein deutsch-französisches Rechenzentrum mit mehr als 100.000 Computerchips solle in der KI die Lücke zu den globalen Wettbewerbern Amerika und China schließen. Ein KI-Sicherheitsinstitut der beiden Staaten solle gegen europäische Schwachstellen in der digitalen Infrastruktur vorgehen. Ein deutsch-französischer Fonds zur „Demokratisierung von Innovation“ solle vor allem Erfinder und Forscher fördern, die durch das Einkommen ihrer Eltern, durch ihr Geschlecht oder durch ihren Standort benachteiligt seien.
Sehr konkret wenden die Ökonomen sich gegen wachstumsbremsende Obergrenzen für den Energieverbrauch. Die entsprechende europäische Direktive zur Energieeffizienz sei abzuschaffen oder deutlich zurückzuschrauben. Die Ökonomen raten auch zu Steuerreformen, um Arbeits- und Investitionsanreize zu stärken.
Signifikante Wachstumseffekte seien nur mit Steuersenkungen zu erwarten, heißt es. Diese könnten ohne höhere Defizite allerdings nur erreicht werden, wenn die öffentlichen Ausgaben beschnitten würden. Außerdem plädieren die Ökonomen für eine Stärkung des europäischen Kapitalmarkts, um innovative Start-ups finanziell besser aufzustellen.
An der Stellungnahme haben von deutscher Seite der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, die Sachverständigenratsvorsitzende Schnitzer und Ulrike Malmendier (Haas School of Business der University of California), die dem Sachverständigenrat ebenfalls angehört, mitgeschrieben.
Beziehung zu China
Marktzugang gegen Direktinvestitionen – lautet die Kernforderung mit Blick auf die Wirtschaftsbeziehungen zu China. „Die wichtigste makroökonomische Herausforderung besteht darin, die chinesische Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen, die Ersparnisse zu reduzieren und den Konsum zu steigern. Auch wenn Europa nur begrenzten Einfluss hat, sollte es darauf drängen, dass China seine Neuausrichtung beschleunigt“, heißt es in dem von Moritz Schularick vom Kiel Institut für Weltwirtschaft mitverantworteten Kapitel. Wie realistisch eine solche Forderung ist, bleibt abzuwarten. Jenseits dessen wiederholt das Papier viele bekannte Forderungen zur Verringerung der Abhängigkeit von China bei Rohstoffen, Medizin und Batterien.
Auffällig ist das für französische Verhältnisse klare Bekenntnis zum freien Handel mit China. Das gilt vor allem in den Feldern, in denen die EU weder wettbewerbsfähig noch erpressbar ist – wie bei Solarmodulen. Ähnlich auffällig ist die Absage an Industriepolitik. Sie diene eher strauchelnden Altkonzernen als gesunden Unternehmen. Zudem könne die EU hier im Wettbewerb mit China ohnehin nicht mithalten. Die Autoren wollen Industriepolitik deshalb weitgehend auf den Verteidigungssektor und Hochtechnologie konzentrieren.
In für die Wettbewerbsfähigkeit der EU wichtigen Feldern – genannt werden Batterien – setzen die Autoren auf Anreize für Direktinvestitionen aus Korea und Japan, aber auch aus China. Die von diesen Mitteln gebauten Fabriken sollen aber „echte Produktionsstätten“ sein, also nicht nur dazu dienen, chinesische Vorprodukte zusammenbauen. Der Marktzugang für China zum EU-Markt soll wie dort in den 2000er-Jahren an Investitionen in Europa geknüpft werden. Hier soll der Handel also durchaus eingeschränkt werden. Vorbild dürften die EU-Zölle auf Elektroautos aus China sein. Auch für deren Aufhebung verlangt die EU den Aufbau echter chinesischer Produktionskapazitäten in der EU.
Apropos Autos: Beide Seiten wollen die Hersteller durch eine gemeinsame deutsch-französische Initiative für Elektroautos stützen, inklusive strikter „Made in Europe“-Vorgaben.
Verteidigung
Weitreichend sind die Empfehlungen in der bislang stark national geprägten Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hier fordern die Ökonomen angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und angesichts des Vertrauensverlusts in die transatlantischen Sicherheitsgarantien eine „drastische Änderung der europäischen Aufrüstungsstrategie“.
Es brauche nicht nur „groß angelegte Technologieprogramme“ in Bereichen wie Robotik, Weltraum oder Hyperschallwaffen, sondern auch einen einheitlichen europäischen Markt für Verteidigungsgüter und eine gemeinsame Beschaffung. Aufhorchen lässt zudem ihr Plädoyer, gemeinsame Verteidigungsgüter durch die Ausgabe von europäischen Schuldtiteln zu finanzieren.
Die Ökonomen versprechen sich von alldem gleichermaßen sowohl verbesserte Fähigkeiten der Streitkräfte und reduzierte Abhängigkeiten als auch mehr Innovationen und positive Auswirkungen auf den zivilen Sektor. Die Wiederaufrüstung müsse „Teil einer Industriestrategie zur Überwindung des technologischen Rückstands Europas“ sein, schreiben sie.
Die europäische Sicherheit und eine technologische Führungsrolle seien zwei Seiten derselben Medaille. Gemeinsame Anstrengungen, auch durch Standardisierung, machten die Rüstungsbeschaffung zudem günstiger. Hier unterstreichen Alain Quinet von der französischen Militärschule Académie de Saint-Cyr Coëtquidan, Xavier Jaravel vom französischen Beratungsgremium Conseil d’analyse économique, Jeromin Zettelmeyer vom Brüsseler Bruegel-Institut und Moritz Schularick vom Kiel Institut den Nutzen ökonomischer Expertise. So plädieren sie für ein „Forschungszentrum für europäische Verteidigungsökonomie“. Es solle in Fragen wie der Beschaffung und Vertragsgestaltung, der industriellen Organisation der europäischen Verteidigungsindustrie oder der Innovationsökonomie beratend tätig sein.
Energie
In der Energiepolitik gehen Paris und Berlin bislang unterschiedliche Wege. Frankreich setzt in der Stromerzeugung auf Atomkraft, staatlich dominiert und zentralisiert. Deutschland setzt auf ein dezentrales privates und kommunales System aus Sonnen- und Windkraft. Beide Wege gelten in der EU als „erneuerbar“. Der Expertenbeirat rügt, bisher gebe es einen „eklatanten Mangel an Koordinierung“. Der gefährde Sicherheit und Wohlstand und könne die beiden größten EU-Volkswirtschaften „auf einen Kollisionskurs“ führen.
Das Gutachten rät stattdessen, sich gemeinsam an Auktionen zur Beschaffung erneuerbarer Energien zu beteiligen. Berlin könnte von Frankreich für den Aufbau von Kapazitätsmechanismen und intelligenten Stromzählern lernen. Sinnvoll sei die Einrichtung eines „bilateralen Energierats“ aus Regierungen, Regulierern und Netzbetreibern, an dessen Ende ein „multinationaler, unabhängiger Netzbetreiber“ stehen könnte.
Befürwortet wird ein gemeinsames Forschungsprogramm zur Kostensenkung bei neuen Schlüsseltechniken, etwa bei grünem Wasserstoff, der CO2-Abscheidung (CCS), aber auch kleinen modularen Kernreaktoren (SMR). Die beiden Länder sollten einen Klimaklub mit höheren CO2-Preisen und Klimazöllen bilden, gemeinsam die Wasserstoffnutzung vorantreiben und einen „verteidigungsbereiten Energiesektor“ aufbauen, heißt es.
Denkbar sei auch, die Beschaffungs- und Speicherstrategien für Erdgas aus Russland oder Nordafrika zu koordinieren und andere Abhängigkeiten gemeinsam anzugehen, etwa die von Energie aus den USA, von kritischen Mineralien oder Geräten aus China. Ins Gespräch bringen die Forscher ebenfalls gemeinsame Stresstests für Stromausfälle. An dem Papier waren auf deutscher Seite die Ökonomen Andreas Löschel aus Bochum, Lion Hirth aus Berlin und Marc Oliver Bettzüge aus Köln beteiligt.
Von Dietrich Creutzburg, Christian Geinitz, Hendrik Kafsack, Johannes Pennekamp, Patrick Welter und Niklas Záboji