Der Militärhistoriker Torsten Heinrich vergleicht den Winterkrieg 1939/40 mit dem seit 2022 laufenden Konflikt. So eine parallele Betrachtung führt zu interessanten Erkenntnissen – und zeigt, was das Ziel des russischen Machthabers sein dürfte.
Ohne Ergebnisse ist das mit großer Spannung erwartete Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Russlands Machthaber Wladimir Putin vorbeigegangen. Das liegt vor allem daran, dass der Kreml-Herr an seiner Maximalforderung festhält: Die Ukraine soll den gesamten Donbass aufgeben – und damit den „Festungsgürtel“, vor dem die russische Armee schon zehntausende Soldaten für wenige Kilometer Bodengewinn geopfert hat.
Die Verbissenheit, mit der Putin an der Eroberung der rund 50 Kilometer langen Linie von Slowjansk über Kramatorsk und Druschkiwka bis nach Kostjantyniwka festhält, illustriert die Bedeutung dieser Stellung. Die man sich aber nicht als ausgebautes Bunkersystem vorstellen darf, eher als improvisierte Stellungen mit den vier Städten als Pfeilern, die vor dem Angriffskrieg jeweils zwischen 50.000 und 150.000 Einwohner zählten. Dies bildet die letzte Verteidigungslinie der Ukrainer im Gebiet Donezk, denn westlich davon öffnet sich weites Gelände, auf dem russische Truppen schnell vorstoßen könnten.
Im Podcast des stellvertretenden „Bild“-Chefredakteurs Paul Ronzheimer zieht der Militärhistoriker und YouTuber Torsten Heinrich den Vergleich dieser Stellung mit der finnischen Mannerheim-Linie, deren Eroberung das Ziel der Sowjetunion im 1939 vom Zaune gebrochenen Winterkrieg war. Folgt Wladimir Putin also dem Ziel „Von Stalin lernen heißt siegen lernen“?
Tatsächlich bietet der seriöse Vergleich (also gerade nicht eine Gleichsetzung) dieser beiden Angriffskriege des Kremls erhebliches Erkenntnispotential. Wegen vermeintlicher „Kriegsgefahr“ hatte Moskau seit dem 11. September 1939 von Finnland territoriale Zugeständnisse verlangt – in Wirklichkeit ging es aber um die Beute, die der deutsche Diktator seinem Moskauer Partner im Geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 zugestanden hatte. Demnach sollten künftig die baltischen Staaten, zu denen man seinerzeit auch Finnland zählte, Teil der „sowjetischen Einflusssphäre“ sein.
Der Kreml verlangte den Südteil der Karelischen Landenge zwischen dem östlichsten Zipfel der Ostsee, dem Finnischen Meerbusen, und dem Ladogasee. Dieses Areal sollte die Regierung in Helsinki abtreten, zwar im Tausch gegen andere Gebiete, die aber strategisch wertlos waren. Die künftige Grenze zwischen Finnland und der Sowjetunion wäre einige Kilometer östlich der seinerzeit zweitgrößten finnischen Stadt Wiborg (finnisch Viipuri, russisch Wyborg) verlaufen.
Das hatte zwei Gründe: Erstens wollte Stalin der sehr nahe an fremdem Territorium gelegenen Stadt Leningrad mehr sowjetisch kontrolliertes Umland verschaffen. Zweitens aber zielte die geforderte Gebietsabtretung darauf, dass die in den vorangegangenen Jahren ausgebauten Verteidigungsstellungen, nach Carl Mannerheim, dem obersten finnischen General, Mannerheim-Linie genannt, hätten aufgegeben werden müssen. Ohne diese befestigte Grenze wäre Finnland sowjetischen Erpressungsversuchen gegenüber wehrlos gewesen. Genau das strebte Stalin an, dem es immer um Macht um ihrer selbst willen ging.
Die Regierung in Helsinki schwankte, ob sie der Erpressung nachgeben sollte, entschied sich letztlich aber dagegen. Man hoffte, durch antisowjetische Bündnisse mit Schweden oder Hitler-Deutschland Moskau abschrecken zu können. Im Streit wurden die sowjetisch-finnischen Verhandlungen, die mehr den Charakter einer geforderten Unterwerfung hatten, am 13. November 1939 ergebnislos beendet.
Zwei Tage später, am 15. November 1939, versetzte Stalin den Militärbezirk Leningrad in Alarmbereitschaft und ließ einen Angriff vorbereiten. Da die Rote Armee den finnischen Truppen in jeder Hinsicht zahlenmäßig weit überlegen war, schien das Ergebnis absehbar zu sein. Zielbewusst eskalierte der Moskauer Machthaber in den folgenden Tagen den Konflikt. Warum er sich damit vergleichsweise viel Mühe gab, ist allerdings unklar: Weder in den westlichen Staaten noch in Deutschland oder gar in Finnland selbst glaubte irgendjemand an die sowjetische Version, bedroht zu werden. Niemand hegte mehr Illusionen über die vermeintliche Friedfertigkeit der Sowjetunion.
So war eigentlich niemand, der sich mit Machtpolitik auskannte, wirklich überrascht, als der sowjetische Diktator am 28. November 1939 den bilateralen Nichtangriffspakt mit Finnland aufkündigte. Zwei Tage später überschritt die Rote Armee nach einem inszenierten Grenzzwischenfall mit vier Armeen und fast 500.000 Soldaten, 1500 Panzern und 3000 Flugzeugen die Grenze. Der Beginn des Winterkriegs – an sich eine klare Sache, denn Finnland standen ganze 150.000 Mann zur Verfügung.
Doch bald zeigte sich, dass Stalin die militärischen Fähigkeiten seiner Truppen massiv überschätzt hatte: Die vordersten Divisionen der Roten Armee benötigten nämlich bei eisigen Temperaturen eine Woche, um die 50 bis 60 Kilometer zwischen der Staatsgrenze und den finnischen Befestigungen zu bewältigen.
Dann aber liefen sie sich an der Mannerheim-Linie fest – hier blieben die sowjetischen Panzer und Infanteristen hängen. In ihrer östlichen knappen Hälfte bestand die Befestigung vor allem aus dem meist seeartig verbreiterten Fluss Vuoksi, dessen Nordufer mit Aussichtsposten und einigen Artilleriebunkern verstärkt war. Für eine motorisierte Armee stellte der Vuoksi bis auf eine natürliche, von zwei Brücken überspannte Engstelle bei Lesovo eine nahezu unpassierbare Hürde dar. Im westlichen Teil dagegen, wo es keine ähnlichen natürlichen Hindernisse gab, waren in den 1930er-Jahren Feldbefestigungen errichtet worden. Darunter mehr als 500 MG-Stellungen, 136 Kilometer Panzersperren und weit über 400 Unterstände teilweise aus Beton.
Dennoch handelte es sich bei der Mannerheim-Linie eben nicht um ein vollwertiges Festungsbauwerk wie etwa die französische Maginot-Linie, die als Konsequenz aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges eine undurchdringliche Front darstellen sollte, allerdings beim deutschen Angriff im Mai 1940 kläglich versagte. Vielmehr zielte das seit 1920 schubweise errichtete Verteidigungswerke stets darauf, den erwarteten Vormarsch der Roten Armee so lange zu verzögern, bis das kleine Finnland internationale Hilfe bekäme.
In Erwartung eines schnellen Waffengangs waren die Rotarmisten weder mit Winterausrüstung noch mit weißen Tarnanzügen ausgerüstet. Ihr Standardgewehr, der seit 1902 verwendete Mosin-Nagant-Karabiner vom Kaliber 7,62 Millimeter, versagte bei unter 15 Grad unter null den Dienst. Die sowjetischen Fahrzeuge mussten ständig die Motoren laufen lassen, was Unmengen an Treibstoff verbrauchte.
So blieb es den ganzen Dezember 1939 und Januar 1940, teilweise bei Temperaturen unter 50 Grad minus. Erst als die Kräfte der Roten Armee Anfang Februar 1940 deutlich verstärkt worden waren, gelang ihnen ein Durchbruch der Mannerheim-Linie. Am Ende hatte die Rote Armee mindestens 127.000 Tote zu beklagen, vielleicht auch 168.000. Demgegenüber waren knapp 26.000 Finnen gefallen.
Der Vergleich der beiden Konflikte zeigt, dass es einige Parallelen zwischen Stalins Winterkrieg und Putins Ukraine-Krieg gibt: Das Ziel war in beiden Fällen, ein Nachbarland durch Wegnahme befestigter Verteidigungslinien strategisch so zu schwächen, dass es keinerlei Möglichkeit mehr hatte, sich gegen politische Diktate zu wehren. Jedoch versagte die Rote Armee 1939/40 ebenso massiv wie die russische Armee seit 2022. Die massive zahlenmäßige Überlegenheit brachte den Angreifern gar nichts, ihre Verluste hingegen waren astronomisch (und wurden immer kleingeredet und heruntergefälscht). Und in beiden Fällen wehrte sich ein vergleichsweise deutlich kleineres Volk gegen die Kriegsmaschinerie des Kreml. Finnland unterlag schließlich im März 1940, weil der Konflikt im Westen Europas, wo Stalins Verbündeter Hitler seine Angriffe vorbereitete, die Aufmerksamkeit der potenziellen Unterstützer band. Nun musste ganz Karelien aufgegeben werden, darunter auch Wiborg. Dabei blieb es im Wesentlichen nach 1945.
Das Beispiel von Torsten Heinrich im Ronzheimer-Podcast zeigt, wie ertragreich ein Vergleich unterschiedlicher historischer Ereignisse sein kann, wenn er denn kenntnisreich und zugleich vorsichtig erfolgt. Sollte die Ukraine gezwungen werden, den „Festungsgürtel“ im Donbass aufzugeben, wie Finnland Anfang Februar 1940 die Mannerheim-Linie verlor, dann würde das die Konflikte im westlichen Osteuropa nicht beenden, sondern nur verschieben – und dem Stalin-Schüler im Geiste Appetit auf mehr machen.
Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELTGeschichte. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, die SED-Diktatur sowie linker und rechter Terrorismus.