Ingrid Noll wird oft vorgeworfen, dass sich ihre vielen Bücher allzu sehr ähneln. Tatsächlich sind sie meistens nach dem gleichen Prinzip verfasst: Eher unscheinbare Frauen aus bürgerlichem, gut situiertem Milieu ermorden Männer. In der Regel nicht aus Leidenschaft, sondern aus rein praktischen Gründen. Dazu greifen sie gerne zu Gift. Dass jede dieser Geschichten unverkennbar die schwarzhumorige Handschrift der inzwischen fast 90-jährigen Schriftstellerin trägt, kann aber auch den besonderen Reiz ausmachen. Das gilt genauso für ihr neues Buch „Nachteule“.

Lesen Sie auch:„Der Schlächter“: Literatur-Podcast zu Joyce Carol Oates

Die Ich-Erzählerin, Teenagerin Luisa Müller, lebt mit ihren wohlhabenden Eltern in einem schicken Einfamilienhaus am Rand einer nicht genannten Stadt. Direkt hinter dem riesigen Garten beginnt der Wald. Als Baby wurde Luisa adoptiert und ist so aus ihrem Heimatland Peru nach Deutschland gekommen. Dort fällt sie mit ihrer dunklen Haut, den tiefbraunen Augen und pechschwarzen langen Haaren auf. Außenseiterin in der Schule ist sie aber aus einem anderen Grund. Während die gleichaltrigen Mädchen ausprobieren, wie ihre weiblichen Reize bei den Jungen in der Klasse ankommen, interessiert sich Einzelgängerin Luisa ausschließlich für den Unterricht. Sie schreibt immer Einsen und ist als langweilige Streberin verschrien.

Ingrid Noll: „Nachteule“, 304 Seiten, 26 Seiten, Diogenes Foto: Diogenes

Dabei hat sie eine außergewöhnliche Gabe, von der außer ihr nur die Eltern wissen. Luisa kann im Dunklen sehen. Das erste Mal zeigt sie diese Fähigkeit, als sie noch in den Kindergarten geht. Fürsorglich beschließen Ewald und Silvia Müller die Superkraft ihrer Tochter für sich zu behalten. Andernfalls könnte diese womöglich als Studienobjekt in irgendeinem Labor landen.

Zum Verhängnis wird Luisa ihre Gabe trotzdem. Denn als sie, inzwischen Schülerin am Gymnasium, im Dunkeln wie so oft durch den nahegelegenen Wald streift, trifft sie auf einen jungen Obdachlosen. Er gibt sich als Tim aus und weckt ihr Mitgefühl. Passenderweise ist sie gerade überzeugt davon, nach der Schule Sozialarbeiterin werden zu wollen und beschließt, an Tim „schon einmal zu üben“. Das Unheil nimmt seinen Lauf. Gleich zu Beginn des Buches erfährt man zudem, dass Luisa nach dem Abitur Medizin studiert und Psychiaterin werden will. „Demnächst werde ich mit einer Lehranalyse beginnen, um meine härteste Zeit als Teenager aufzuarbeiten.“

Wer geschliffene Sprache oder raffinierte Metaphern sucht, ist bei Ingrid Noll falsch. Es sind die makabren Inhalte, die bitterböse Handlung und mitunter doch noch originellen Twists, mit denen sie überzeugt. „Nachteule“ kann man sich zwischendurch ruhig gönnen.