„Die Zukunft Europas wird sich in der Ukraine entscheiden“, sagt Roderich Kiesewetter (CDU/CSU), Mitglied der deutschen Delegation zur Interparlamentarischen Konferenz für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, kurz: IPK GASP/GSVP, die vom 26. bis 28. August 2025 zu ihrer Herbsttagung in Kopenhagen zusammenkam. Oberste Priorität für die gemeinsame europäische Sicherheitspolitik müsse daher die „glaubwürdige und substanzielle militärische Unterstützung der Ukraine“ sein, „denn sie ist der Schutzschild Europas“.
Europa brauche eine Gesamtstrategie gegen die zunehmende Bedrohung durch hybride Angriffe Russlands und seiner Verbündeten China, Iran und Nordkorea. Deutschland müsse dabei eine Führungsrolle übernehmen, fordert Kiesewetter. Im Interview spricht der CDU-Außenpolitiker über die Themen der IPK-Herbsttagung, die Aufgabenteilung zwischen Amerika, der Nato und Europa in der Sicherheit und Verteidigung und darüber, warum eine Mitgliedschaft der Ukraine ein enormer Gewinn für die EU wäre. Das Interview im Wortlaut:
Herr Kiesewetter, die Herbsttagung umfasste eine anspruchsvolle Agenda. Beschleunigt der Druck vieler Krisenherde und Herausforderungen die Dinge in der GASP/GSVP?
Leider nein, weil die Grundsatzentscheidungen weiter national getroffen werden müssen. Qualifizierte Mehrheitsentscheide gibt es nicht. Das heißt weiterhin, dass einzelne Länder notwendige Veränderungen blockieren oder so verzögern, dass eine Lösung immer schwieriger wird. Die EU hat keine „Smart Power“, sie ist noch kein glaubwürdiger geostrategischer und geoökonomischer Akteur. Die europäische Außen- und Sicherheitspolitik leidet an einer uneinheitlichen Bedrohungswahrnehmung und einem fehlenden entschlossenen Handlungsrahmen. Doch es gibt durchaus positive Entwicklungen, die Hoffnung machen, dass zumindest in einem Teil der Mitgliedstaaten die Dringlichkeit zu handeln erkannt wurde.
Welche meinen Sie?
Mit der Verteidigungsinitiative „Readiness 2030“ sollen kurzfristig 800 Milliarden Euro für den Aufbau europäischer Verteidigungskapazitäten mobilisiert werden. Das wäre bis vor kurzem noch unvorstellbar gewesen. Auch die Vorgaben des „Niinistö-Reports für zivile und militärische Resilienz und Bereitschaft“ (der EU-Kommission, des früheren finnischen Präsidenten Niinistö, Anm. d. Red.) zeigt schonungslos Defizite auf und gibt konkrete Handlungsempfehlungen. Das muss nun noch von einigen nationalen Regierungen verinnerlicht werden.
Was hat die Parlamentarier während der Konferenz am meisten bewegt?
Es wurde unter den Parlamentariern nochmal klar, dass Europa sich endlich selbst entschlossen um die eigene Sicherheit kümmern muss. Die USA unter Präsident Trump sind kein verlässlicher Sicherheitspartner mehr, sondern im „Team Multipolarität“, also bei denjenigen Staaten zu verorten, die die regelbasierte Ordnung unterminieren wollen. Sie sind nicht auf der Seite der Ukraine oder eines freien Europas. Ganz besonders Dänemark als Gastgeber hat hier mit der Drohung der USA, Grönland einzunehmen, seine Erfahrungen gemacht. Schade ist deshalb die Wirkungslosigkeit solcher Konferenzen und, dass keine Beteiligung der EU-Kommission erfolgte. Es wäre ein starkes Signal an Dänemark mit Grönland gewesen, hier Flagge zu zeigen!
Was noch?
Bewegend war der hervorragende und konstruktive Beitrag der ukrainischen Ministerpräsidentin Julija Swyrydenko, der ich eine Frage zu Sicherheitsgarantien stellen konnte. Es ist davon auszugehen, dass die USA sich schrittweise aus europäischer Sicherheitsübernahme zurückziehen werden. Zu hoffen bleibt, dass das halbwegs geordnet passiert. Doch es ist nun eine alleinige europäische Verantwortung, die Ukraine zu unterstützen und die russische Aggression einzudämmen. Die zunehmende Bedrohung durch hybride Angriffe Russlands und seiner Verbündeten China, Iran und Nordkorea und die unmittelbare Gefährdung der baltischen Staaten hängt mit unterlassener Hilfeleistung der Europäer für die Ukraine zusammen.
Die Herbstkonferenz stand unter dem Titel „Prioritäten und Strategien. Die Zukunft der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik“. Wo sehen die Parlamentarier, gerade jetzt, unter dem Eindruck von Krisen und Kriegen, die Prioritäten für die GASP?
Mit einer früheren und substanzielleren Unterstützung wäre die Ukraine, aber auch Europa, heute in einer ganz anderen Position. Deutschland hat hier eine unrühmliche Rolle gespielt. Oberste Priorität für eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik muss deshalb die Unterstützung der Ukraine sein, denn sie ist der Schutzschild Europas. Anstatt also den Druck auf den ukrainischen Präsidenten Selenskyj zu erhöhen, einem Diktat zuzustimmen oder einen „frozen conflict“ anzustreben, der Russland nur ermutigt und Zeit verschafft, den Krieg auf EU- und Nato-Staaten auszuweiten, braucht es eine glaubwürdige und substanzielle militärische Unterstützung. Zweitens benötigt die EU eine Strategie, um Abhängigkeiten von den USA bei Schlüsselfähigkeiten wie dem strategischen Lufttransport, der satellitengestützten Aufklärung und der Flugabwehr zu reduzieren. Der Fokus muss für die EU auch auf weitreichenden Präzisionswaffen liegen.
Die EU-Kommission hat Anfang des Jahres den bereits erwähnten Verteidigungsfonds vorgestellt, der mit Milliardeninvestitionen die Entwicklung von Verteidigungstechnologien in den Mitgliedsländern fördern soll. Das hört sich nach einem soliden Plan an, aber eben auch nach einem jahrelangen Prozess. Hat Europa diese Zeit?
Nein, denn ein weiterer Angriff Russlands ist eher in ein bis zwei Jahren zu erwarten, zumindest wenn es bei der zu geringen Unterstützung für die Ukraine bleibt. Doch die EU-Kommission will mit dem sogenannten „Omnibus-Paket“ (Gesetzgebungsverfahren, bei dem mehrere Gesetze gebündelt aktualisiert werden, Anm. d. Red.) für die Verteidigungsbereitschaft eine Beschleunigung erreichen und das Vorziehen von Investitionen in Verteidigungsfähigkeiten erreichen. Doch es bleibt in der EU immer auch die Entscheidung der einzelnen Staaten.
Ist die Zeit reif für einen neuen Integrationsschritt, das heißt eine Vergemeinschaftung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik als neuen Politikbereich, für den dann die Europäische Kommission zuständig wäre? Oder reicht wie bisher die zwischenstaatlich geregelte Zusammenarbeit als Rahmen?
Das Problem ist, dass die EU weder bei Zielen, Prioritäten noch bei der Strategie im Bereich der Sicherheitspolitik einheitlich auftritt. Ein neuer Integrationsschritt wäre wünschenswert, wenn wir einen geschlossenen politischen Willen in der EU hätten. Da wir diesen nicht haben und die Entscheidung in der Sicherheitspolitik bei den einzelnen Mitgliedstaaten verbleibt, ist es effizienter, wenn sich gerade im Bereich der Sicherheitspolitik eine Koalition der Willigen bildet, um die Blockade innerhalb der EU zu überwinden. Doch deren Effizienz und Erfolg hängt von der Geschlossenheit des Willens und der Einigung über Ziele und Strategien ab. Die IPK kann mithelfen, diese Geschlossenheit parlamentarisch zu forcieren, aber am Ende bleibt der Erfolg angesichts der Verfasstheit der EU fraglich.
Wäre es eine Lösung, wenn willige Länder als eine Art Kerneuropa in der Sicherheit und Verteidigung voranschreiten?
Das müssen sie unbedingt, ansonsten werden die sinnvollen Ansätze der EU-Kommission scheitern oder verzögert. Es ist auch immer Aufgabe der größeren, wirtschaftsstarken Länder, Führungsverantwortung zu übernehmen. Deutschland kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Wir sind Logistik-Drehscheibe und haben die nötige Wirtschaftskraft. Unsere europäischen Nachbarn erwarten diese Verantwortungsübernahme zu Recht. Wir sollten sie nicht enttäuschen, sondern aktiv an Verteidigungsbereitschaft und Abschreckung mitwirken.
Auf die Avancen Frankreichs eines stärkeren europäischen Zusammengehens in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat Deutschland oft geantwortet: Wir haben doch die Nato, Nato first. Ein Fehler?
Nein, denn die Nato ist die einzige glaubwürdige Sicherheitsgarantie. Doch Sicherheit muss immer unterfüttert sein, damit sie glaubwürdig ist: mit personellen und materiellen Ressourcen, Fähigkeiten und mit Handlungswillen. Hier haben wir die Nato hängen lassen, weil wir nicht zur Lastenübernahme bereit waren und unsere Sicherheit einseitig den Amerikanern aufgebürdet haben. Doch schon der frühere US-Präsident John F. Kennedy forderte von den Europäern eine glaubwürdige Lastenteilung.
Zu den transatlantischen Beziehungen gab es nun eine Dringlichkeitsdebatte. Nato oder Europa: Das eine muss das andere doch nicht ausschließen, oder? Eine „erneuerte“ Nato mit stärkerem, europäischem Beitrag oder Pfeiler: Funktioniert das, und worauf müsste eine neu justierte Aufgabenteilung hinauslaufen?
Ich sehe das so: Europa sollte weiter alles tun, dass die USA zumindest mit dem nuklearen Schutzschirm in Europa bleiben. Doch ansonsten braucht die Nato, um glaubwürdig zu bleiben, einen starken europäischen Pfeiler, der in Europa konventionelle Sicherheit selbst leistet. Denn die USA werden sich weiter verstärkt auf die Bedrohung durch China ausrichten: im Pazifik, in der Arktis, weltweit – auch das passiert nicht von heute auf morgen, sondern begann schon mit dem von Präsident Obama ausgerufenen „Pivot to Asia“ (Fokussierung der Sicherheitspolitik auf den asiatisch-pazifischen Raum, Anm. d. Red.). Insofern hätte es uns nicht überraschen dürfen.
Ist die sicherheitspolitische Community eigentlich immer noch vorrangig damit beschäftigt, US-Präsident Donald Trump mit hohen Zusagen bei Laune zu halten, oder lässt es sich mittlerweile wieder freier und klarer in Strukturen und Notwendigkeiten denken, die darüber hinaus reichen?
Wenn ich mir die Bilder von dem Washington-Besuch der europäischen Staats- und Regierungschefs anschaue, scheint es so, dass die großen europäischen Staaten sich selbst verzwergen und sich an Donald Trump festklammern – statt notwendige Handlungen ohne ihn vorzunehmen. Die Gruppe der „NB8“ (englische Abkürzung für Nordic-Baltic Eight, Anm. d. Red.), also der nordischen und baltischen Staaten, haben längst verstanden, was auf dem Spiel steht und mit welcher Dringlichkeit eigene Anstrengungen erbracht werden müssen.
Sollten Deutschland und Europa versuchen, sich in der Verteidigung und Abschreckung komplett auf eigene Füße zu stellen, falls Amerika als Schutzmacht ausfällt? Oder ist das ein Irrweg?
Die USA sind als Schutzmacht ausgefallen, da sich Donald Trump auf die Seite des Aggressors gestellt hat, der Europa bedroht. Er wird Fähigkeiten nur dann für Europa stellen, wenn er einen wirtschaftlichen Mehrwert erkennt. Das sieht man daran, dass er zwar der Ukraine Waffen liefern wird, aber die Europäer diese bezahlen. Es wäre deshalb verantwortungslos und fahrlässig, wenn Europa seine Verteidigung und Abschreckung nicht so rasch wie möglich, besser umgehend, auf eigene Füße stellt.
Sie haben sich während der Konferenz zu dem Aspekt „Verteidigung und Abschreckung“ zu Wort gemeldet. Was ist dabei Ihr wichtigster Punkt?
Mein wichtigster Punkt ist, dass die EU begreift, dass nicht nur Russland einen Krieg gegen Europa führt, sondern es dabei durch eine Allianz, zu der Länder wie China, Iran und Nordkorea gehören, unterstützt wird. Deshalb braucht Europa eine Gesamtstrategie, um die sogenannten CRINK-Staaten (China, Russland, Iran, Nordkorea; Anm. d. Red.) militärisch, politisch und geoökonomisch abzuschrecken. Mein Punkt war deshalb, dass die E3-Länder (Vereinigtes Königreich, Frankreich und Deutschland, Anm. d. Red.) endlich den „Snapback-Mechanismus“ gegen das terroristische Mullah-Regime im Iran auslösen, das auch uns in Europa bedroht und angreift, unter anderem auf dem kognitiven Gefechtsfeld (der Snapback-Mechanismus sieht Sanktionen gegen den Iran vor, sollte dieser sich nicht an die internationalen Vereinbarungen über sein Nuklearprogramm halten, Anm. d. Red.).
Die Parlamentarier haben sich auch darüber ausgetauscht, was die Ukraine an Unterstützung braucht. Andere EU- und Nato-Mitglieder, beispielsweise die baltischen und nordischen Länder, engagieren sich, bezogen auf ihre Leistungsfähigkeit als kleine Volkswirtschaften, stärker als Deutschland. Kann man sagen: Das ist okay so, die haben schließlich als unmittelbare Anrainer oder nächste Nachbarn Russlands eine andere Bedrohungswahrnehmung?
Die Zukunft Europas wird sich in der Ukraine entscheiden. Die Glaubwürdigkeit der EU hängt deshalb auch davon ab, wie stark wir die Ukraine unterstützen. Deshalb sollten wir uns ein Beispiel an den nordischen und baltischen Staaten, insbesondere auch am Gastgeberland Dänemark nehmen. Es ist nicht okay, wenn wirtschaftsstarke Länder wie Deutschland gemessen am Bruttoinlandsprodukt viel weniger leisten. Wir haben immer wieder einen Führungsanspruch formuliert, bislang aber keine Bereitschaft erkennen lassen, Führungsverantwortung zu übernehmen. Denn diese zeigt sich auch beim Umfang der militärischen Unterstützung. Deutschland wirkt wie ein Bekenntnis-Riese und ein Taten-Zwerg.
Die Erweiterungspolitik der EU ist seit jeher ein eigenständiges Handlungsfeld, neue Mitglieder werden da aufgenommen, aus „außen“ wird „innen“, es geht um ganz viele Politikbereiche. Bei den kommenden Anwärtern handelt es sich mit dem Balkan und der Ukraine um Länder in geopolitisch umkämpften Regionen. Aufgenommen werden dürfen aber, in die EU wie auch in die Nato, nur befriedete Staaten. Sollte die Aufnahme neuer Mitglieder zu einer sicherheitspolitischen Frage aufgeladen werden, wie es der Tagesordnungspunkt „Jenseits der Grenzen: Erweiterung als strategisches Investment in Europas Sicherheit“ suggeriert?
Die Aufnahme in die EU und in die Nato war schon immer eine politische Frage, denn auch beispielsweise Griechenland und Zypern wurden trotz Grenzkonflikten aufgenommen. Die EU muss sich als geostrategischer Akteur begreifen. Dazu gehört, dass auch die Aufnahmepolitik eine strategische Entscheidung ist. Die Ukraine wäre mit ihrem Know-how, ihren Verteidigungsfähigkeiten, vor allem aber mit ihren willensstarken Bürgern, die für unsere europäischen Werte kämpfen und große Opfer auf sich nehmen, ein enormer Gewinn für die EU. Deshalb sollte die EU die Voraussetzungen schaffen, um eine schnelle Aufnahme zu ermöglichen.
(ll/29.08.2025)