Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere Kinder- und Jugendheilkunde bis spätestens Ende November schließt“, heißt es auf der Internetseite von Medicover Frankfurt, einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) in der Nähe des Hauptbahnhofs. „Wir bitten Sie, sich eine neue Kinderarztpraxis zu suchen.“
Katharina Jeschke, deren 19 Monate alter Sohn dort Patient ist, hat von der angekündigten Schließung zufällig erfahren. „Ich war schockiert. Dort haben sechs sehr gute Kinderärzte gearbeitet.“ Deren Patienten, besser gesagt, deren Eltern wissen zum Teil noch gar nicht, dass sie bei der nächsten Infektionswelle im Winter nicht mehr im MVZ versorgt werden. „Das ist eine immense Versorgungslücke“, sagt Jeschke, „und eine Katastrophe für die Eltern, ihre Kinder und die anderen Kinderärzte. Denn es fehlt an einer ganz elementaren Versorgung“.
Die umliegenden Praxen werden derzeit geradezu überrannt. Zehn bis 15 Anrufer bitten jeden Tag in der Gemeinschaftspraxis von Luise Weitbrecht in Sachsenhausen um Aufnahme in die Patientenkartei, aber die Mitarbeiterinnen müssen immer wieder absagen. Die Ärztin schätzt, dass von November an 4000 Kinder ohne Versorgung sein werden. Wie fast überall in der Stadt sind Kinderärzte ausgelastet, sie können meist nur noch Geschwisterkinder oder Neugeborene aus der unmittelbaren Nachbarschaft aufnehmen. Eltern chronisch kranker Kinder abzuweisen, sei besonders schlimm, sagt Weitbrecht. Weil sie für Weiterbehandlungen in pädiatrischen Spezialambulanzen immer eine Überweisung vom Kinderarzt bräuchten.
Die Praxen der Kinderärzte sind im Stadtgebiet ungleich verteilt.KV Hessen /F.A.Z.Karte fbr.
Die Pädiatrie gilt als wenig gewinnbringend, weil sie personal- und zeitintensiv ist. „Anders als bei Erwachsenen braucht man etwa für die Impfung eines Babys noch eine Assistenz, und die besorgten Eltern haben viele Fragen“, so die Ärztin. Vergütet wird jedoch in der Regel pauschal im Quartal, gleichgültig ob Eltern mit ihrem Nachwuchs ein- oder zehnmal vorstellig werden – was bei Kindern mit einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung vorkommen kann. „Wir wollen Familien gut betreuen, deshalb können wir nicht unbegrenzt Patienten aufnehmen“, sagt Weitbrecht. Das Gesundheitssystem setze jedoch andere Anreize: Wer viele Patienten in kurzer Zeit behandelt, verdient mehr.
Medicover reagiert nicht auf Nachfragen
Ob die geringe Gewinnmarge zur Schließung der Medicover-Praxis geführt hat, ist unklar. Auf diverse Anfragen der F.A.Z. haben weder die Leitung der deutschen Tochtergesellschaft noch die Geschäftsführung des in Schweden börsennotierten Unternehmens reagiert. In Deutschland gibt es 20 Medizinische Versorgungszentren von Medicover, bisher waren nur am Frankfurter Standort Kinderärzte beschäftigt. In einem kurzen Statement auf der Homepage des Unternehmens bedankt sich der Geschäftsführer Kristian Koch für die Loyalität und Treue der Patienten. Katharina Jeschke beklagt, dass es aber an jeglicher Übergangslösung für diese treuen Patienten mangele. „Das ist kein kleines Unternehmen. Hätten sie nicht Hinweise geben können, wohin man sich wenden kann?“
Sie selbst habe schon eine Videosprechstunde ihrer Krankenkasse in Anspruch genommen, die sich speziell an Eltern mit Kleinkindern richte. Auch über die Telefonnummer 116117 der Kassenärztlichen Vereinigung sind – etwa für die vorgeschriebenen U1- bis U9-Untersuchungen für Babys und Kinder Termine zu bekommen, unter Umständen allerdings in weit entfernten Praxen.
Bei der Kassenärztlichen Vereinigung, die für die Ausschreibung freier Arztsitze zuständig ist, kennt man die Problematik. Seit Montag sind auf deren Website eine Vollzeit- und drei Teilzeitstellen ausgeschrieben, die bisher an Medicover gebunden waren. Darauf können sich nun bundesweit Ärzte bewerben und sich entweder selbständig machen oder, im Falle der Teilzeitstellen, einer Gemeinschaftspraxis anschließen. Doch das Verfahren verspricht keine schnelle Lösung.
Mehr Kinderärzte denn je
Den Druck spüren die betroffenen Eltern, aber er taucht nicht in der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung auf: Dort gilt Frankfurt als überversorgt mit Kinderärzten. Grundlage dafür sind Zahlen des Gemeinsamen Bundesausschusses, die im Wesentlichen die Zahl der Kinder in einem Gebiet mit den dafür erforderlichen Ärzten ins Verhältnis setzt. In Frankfurt ist ein Arzt für 2043 Kinder vorgesehen.
Statistisch ist die Versorgung mit Kinderärzten heute besser denn je: Die Zahl der Kinderärzte ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich gestiegen. Aber ein genauerer Blick offenbart auch, dass darin weder die Anzahl der Arztbesuche der kleinen Patienten noch die geleisteten Arbeitsstunden berücksichtigt werden. Ein Teil des Problems ist eben auch die höhere Inanspruchnahme des Gesundheitssystem als früher: Es fehle Eltern an medizinischen Grundkenntnissen und manchmal einer Oma, der Wadenwickel noch vertraut waren, sagt Kinderarzt Burkhard Voigt. Und es herrsche „eine Verunsicherung durch eine Anarchie der Information“, weil jedes Schreckensszenario einer Diagnose im Internet abgerufen werden könne.
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Außerdem sei die Arbeitszeit zurückgegangen. „Wir haben heute mehr Kinderärzte denn je, aber die Leistung ist geringer“, resümiert der Pädiater, der auch seit vielen Jahren im Landesverband aktiv ist. Das sei kein Vorwurf an Kollegen, sondern die Beschreibung einer Entwicklung, die sich schon seit Jahren abzeichne: Es gebe immer weniger inhabergeführte Praxen, aber immer mehr angestellte Kinderärzte, die in Gemeinschaftspraxen oder in Medizinischen Versorgungszentren wie bei Medicover in Teilzeit arbeiten könnten und vor allem wollten.
Voigt erkennt darin den Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance. „Zu dieser Tendenz kommt noch das demographische Problem hinzu: Es werden in den nächsten Jahren viele Kinderärzte in Rente geben, aber perspektivisch wurden zu wenige ausgebildet, die ihnen nachfolgen“. Der Druck auf das Gesundheitssystem wird demnach absehbar nicht nachlassen.