Der Schlamassel begann schon vor 175 Jahren. Aus Wut über die Programmpolitik der Pariser Konzertveranstalter gründete Camille Saint-Saëns mit ein paar Kollegen 1871 die „Société nationale de musique“. Ihr einziges Ziel: Die Werke einheimischer Komponisten sollten in den Sälen der französischen Hauptstadt erklingen und nicht immer nur Beethoven, Mozart, Mendelssohn und Schumann!
Der Zeitpunkt war günstig gewählt, nach dem verlorenen Krieg gegen die Deutschen fand die „Ars Gallica“-Bewegung auch beim Publikum Unterstützung. Wirklich nachhaltig aber war der Aufstand der protestierenden Tonsetzer nicht. Wenn jetzt beim „Musikfest Berlin 2025“ vier Orchester sowie ein Profichor aus Paris gastieren, werden 15 verschiedene Werke gespielt – aber nur drei davon sind „made in France“.
Das Festival
Das „Musikfest Berlin“ findet vom 30. August bis zum 23. September statt. Orchester aus Frankreich, Italien, den Niederlanden, Schweden und Südkorea gastieren in der Philharmonie.
Mit dabei sind auch die Berliner Philharmoniker, die Staatskapelle Berlin, das DSO, das RSB, der Rias Kammerchor, das Konzerthausorchester sowie das Orchester und die Big Band der Deutschen Oper.
Dabei hat die französische Musikgeschichte so viel mehr zu bieten als immer nur Maurice Ravels „Bolero“ und Hector Berlioz‘ „Symphonie fantastique“. Selbst auf dem Feld der Sinfonik, die bei unseren Nachbarn stets im Schatten der Opernproduktionen stand. Es ist ein Teufelskreis: Je seltener bestimmte Partituren erklingen, desto mehr geraten sie in Vergessenheit. Das führt wiederum dazu, dass die Veranstalter glauben, das Publikum lasse sich mit diesen unbekannten Stücken nicht anlocken.
Altbekannte Meisterwerke
Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des „Musikfest Berlin“, mag sich darüber nicht aufregen. Schließlich sei es doch auch interessant, altbekannte Werke von auswärtigen Orchestern zu hören. Denn jedes Ensemble hat seine eigene Klangkultur.
Hopp kennt aber auch nur zu gut die Zwänge, unter denen Orchester stehen, wenn sie im Ausland auf Tournee gehen. Weil die Reisen immer mehr kosten – und gleichzeitig genauer auf den ökologischen Fußabdruck geachtet wird – möchten sich die Musikerinnen und Musiker mit dem Besten präsentieren, das sie zu bieten haben. Und das sind eben fast immer dieselben Meisterwerke des internationalen Kernrepertoires.
Von Beethoven bis Bolero
Das Amsterdamer Concertgebouworkest präsentiert zum „Musikfest“-Auftakt am 30. August Bela Bartok, das Orchestre de Paris hat Jean Sibelius im Gepäck, das Orchestre des Champs-Elysées interpretiert Beethoven. Und die Accademia di Santa Cecilia aus Rom hat sich ironischerweise für Claude Debussys „La mer“ entschieden, neben dem „Bolero“ und der „Fantastique“ das dritte französische Werk im ewigen Sinfonik-Kanon.
Winrich Hopp ist seit 19 Jahren künstlerischer Leiter des „Musikfest Berlin“.
© Reto Klar Funke/Fotoservices/Berliner Festspiele
Ähnliche Rücksichten wie die Gastorchester haben auch die Berliner Akteure zu nehmen, die beim „Musikfest“ dabei sind, erklärt Winrich Hopp. Denn ihr Auftritt ist zumeist zugleich ihr erstes Abo-Programm – und die Stückauswahl wird darum mit Blick auf das Stammpublikum getroffen.
Global vernetzter Klassikmarkt
Für einen Festivalmacher sind die Spielräume also denkbar eng im global vernetzten Klassikmarkt der Spitzenklasse. Was allerdings Winrich Hopp umso mehr dazu anstachelt, die Orchester zu mutigen Entscheidungen zu bewegen. Über Jahrzehnte hat der 1961 geborene, promovierte Musikwissenschaftler seine Netzwerke aufgebaut. In den 19 Jahren, die er jetzt schon das hauptstädtische „Musikfest“ leitet, konnte er immer wieder spektakuläre Projekte präsentieren.
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In diesem September stehen nun zwei hundertste Geburtstage im Fokus – von Luciano Berio und Pierre Boulez – sowie zwei neunzigste und ein achtzigster – von Helmut Lachenmann und Arvo Pärt sowie der Koreanerin Younghi Pagh-Paan, die seit 1994 als erste Frau überhaupt in Deutschland eine Professur für Komposition innehat, an der Bremer Musikhochschule.
Was sich zunächst ziemlich konventionell anhört, relativiert sich, wenn man weiß, dass Hopps größte Herzensangelegenheit stets die Pflege der Klassiker der Moderne war. Denn nur wenn die Orchester die bedeutendsten zeitgenössischen Partituren regelmäßig spielen, so sein Argument, kann sich jene Vertrautheit mit dem Notentext einstellen, die für eine tiefgehende Interpretation nötig ist. Zumindest in diesem Punkt ist er gedanklich gar nicht so weit von Camille Saint-Saëns und der „Société nationale de musique“ entfernt.