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Der Schriftsteller Benjamin Myers steht auf einer Straße vor Häusern. Benjamin Myers. © Richard Saker

„Strandgut“, ein sozialrealistischer Roman von Benjamin Myers.

Northern Soul war ein Clubphänomen im Nordengland der siebziger Jahre, entstanden aus der Mod-Kultur heraus. Es waren rare Soul-Singles aus den sechziger Jahren, die die DJs ausgegraben haben. Rar der geringen Auflagen wegen: gleich wie mitreißend die Musik auch war, kommerziell gesehen handelte sich um Flops. Gloria Jones‘ „Tainted Love“ (1964), 1981 in der Synthiepopversion von Soft Cell ein gewaltiger Hit, ist ein Beispiel dafür.

Von Earlon „Bucky“ Bronco, dem Protagonisten in „Strandgut“, dem nun in einer kongenialen Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence vorliegenden neuen Roman des englischen Journalisten und Bestsellerautors Benjamin Myers, ist nicht mehr als eine einzige Single herausgekommen. Eine bereits eingespielte zweite blieb – nach anderthalb Jahren einer willkürlichen Untersuchungshaft – unveröffentlicht.

So musste Bucky sich mit unzähligen Jobs durch das Leben schlagen; auf das Schmerzhafteste vermisst er seine vor einem Jahr verstorbene Frau. Unvermuteter Dinge ist er als Hauptattraktion zu einem Northern-Soul-Weekender in der englischen Hafenstadt Scarborough eingeladen, zu einer ansehnlichen Gage. Dort erst wird er zu seiner Verblüffung erfahren, wie gefeiert seine Single in dieser Szene ist. Und dass sie – einen Tantiemensegen verheißend – für einen berühmten Rapsong gesampelt sowie für einen Filmsoundtrack verwendet worden ist.

Entschieden ist der 74-Jährige ein Mann aus einer anderen Zeit. Seiner ehrenamtlichen Festivalbetreuerin, Dinah, fällt gleich am Flughafen auf, dass er ihr, wie lange nicht erlebt, förmlich die Hand schüttelt. Schließlich nennt er sie auch noch eine „Lady“, was sie erröten lässt. Es gehört zu den Qualitäten dieses Romans, dass er lebenskulturelle Unterschiede zwischen heute und einst aufzeigt.

Das Alter ist bei Myers, entgegen den medial verbreiteten Euphemismen, unzweifelhaft gezeichnet als das, was es letztlich ist: „eine große Scheiße“, so Buckys Worte. Die bärbeißige Direktheit im Ton ist von einer klassisch angloamerikanischen Art. Die zwei Tage in Scarborough bis zu dem großen Auftritt – sieht er sich dazu ernstlich imstande? – sind geprägt von einem Nebel aus Jetlag, Whisky, nächtlicher Einsamkeit im Hotelzimmer, und einer existentiellen Not des Entzugs, da sein Schmerzmittelvorrat (Opioide, die er der feuerbrennenden Gelenke wegen ständig einnehmen muss) abhanden gekommen ist.

Der amerikanische Traum ist Bullshit

Zwischen Bucky und Dinah entwickelt sich rasch eine freundschaftliche Nähe. Die Mittfünfzigerin arbeitet als Kassiererin in einem Supermarkt und ächzt, an eine gemeinsame Vergangenheit angekettet, die aber eben nicht mehr ist als das: Vergangenheit, unter der Last einer Ehe mit einem suffversunkenen Sichgehenlasser, der Auftritte von beschämender Peinlichkeit in der Öffentlichkeit hingelegt.

Der erwachsene Sohn ist nicht weniger nichtsnutzig, er hält es mit den Drogen und lässt sich von einer „Verlobten“ in Fernost, der er noch nie anders als via Internet begegnet ist, das Geld aus der Tasche ziehen. Bei ihrem Weg durch ein Wohnviertel sieht Dinah in die Fenster und es kommt ihr der irgendwo aufgeschnappte Satz von den „in strikter Verzweiflung geführten Leben“ in den Sinn, der auch ihre eigene Lebenssituation fasst.

Benjamin Myers‘ Blick ist ein sozialrealistischer. Die Musik, der Soul, ist der Fluchtweg Dinahs, die ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hat. Der „amerikanische Traum“ ist in den Augen von Bucky, der sich keine Krankenversicherung leisten kann, ein Bullshit. In Großbritannien, weiß er, ist das Gesundheitswesen umsonst – was in den USA als Sozialismus, als das Böse gebrandmarkt wird. Nicht wenige von Buckys einstigen Mitschülern sind tot, infolge von Drogen und Armut, andere sitzen im Gefängnis; sein Bruder ist dort unter ungeklärten Umständen gestorben. Verfluchenswert der Zustand der Welt. Kriege, plastikverseuchte Meere … Die bärbeißige Melancholie Buckys ist von einer Art, wie man sie etwa auch aus manchen Altersfilmen von Clint Eastwood kennt.

Das Buch

Benjamin Myers: Strandgut. Roman. A. d. Engl. v. Werner Löcher-Lawrence.
Dumont 2025. 288 S., 24 Euro.

Formal ist dieses Buch ausgesprochen gut gebaut, mit kurzen, präzisen Sätzen. Es hat beträchtliche Qualitäten, in einem freilich bewegt sich der Autor auf Messers Schneide. Wenn Myers wohlmeinend das Leben Buckys als ein massiv vom Rassismus beeinträchtigtes schildert, entspricht das der Realität in den USA, noch immer bekanntlich, und unter Trump erst recht. Gleichzeitig gerät Myers mit seiner Schilderung bisweilen hart an die Grenze zum Klischee.

Vergänglichkeit und Tod sind ein ständig präsentes Motiv dieses ungeachtet dargestellter Härten in gewisser Weise auch wieder milde-heiter gestimmten Romans. Die Filmrechte sind bereits verkauft. Das verwundert einen nicht angesichts eines Buches, das derart rund ist und einen aus sich selbst heraus an das Wort ,,Gefühlskino“ denken lässt.