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Stand: 29.08.2025 19:35 Uhr

Die Amokfahrt auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt hätte verhindert werden können. Zu diesem Schluss kommen vom Magdeburger Stadtrat beauftragte Gutachter laut MDR-Recherchen – und stellen Stadt und Veranstalter ein verheerendes Urteil aus.

Von Jana Merkel, Daniel Salpius und Edgar Lopez, MDR

Sechsfacher Mord, versuchter Mord in 338 Fällen: Taleb A., der am 20. Dezember 2024 mit seinem Auto in eine Menschenmenge auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt gerast war, wird sich schon bald vor Gericht verantworten müssen. Doch parallel stellt sich für die Hinterbliebenen und Geschädigten des Anschlags auch die Frage: Hätte der Anschlag verhindert werden können? Und welche Verantwortung tragen Stadt und Veranstalter des Weihnachtsmarktes?

Ein Gutachten sollte dieser Frage nachgehen – und kommt nun zu einem verheerenden Urteil. Über mehrere Seiten hinweg zählt ein Kapitel Mängel, Versäumnisse und Unstimmigkeiten auf. Demnach könnten gravierende Fehler im Sicherheitskonzept für den Magdeburger Weihnachtsmarkt den Anschlag ermöglicht haben.

Unter den üblichen Standards

Das Sicherheitskonzept sei mangelhaft gewesen und habe nicht den heute üblichen Standards entsprochen. Eine Fahrt über den Weihnachtsmarkt hätte über konsequentere Schutzmaßnahmen verhindert werden können, heißt es in dem vom Bundesverband für Veranstaltungssicherheit (bvvs) erarbeiteten Dokument, das MDR Investigativ vorliegt.

Das Gutachten war vom Magdeburger Stadtrat in Auftrag gegeben worden, um mögliche Versäumnisse von Stadt und Veranstalter in Sachen Sicherheit aufzuarbeiten und Empfehlungen für künftige Märkte zu formulieren. Ein erster Zwischenbericht wurde am vergangenen Freitag in nicht-öffentlicher Sitzung einem Sonderausschuss des Stadtrates vorgestellt.

Nach Einschätzung der Gutachter hätten die Zufahrten zum Weihnachtsmarkt definitiv nicht offen bleiben dürfen. „Um einen geschlossenen Schutzbereich zu schaffen, sind die vorhandenen Rettungszufahrten mit geeigneten Sperr-Systemen zu sichern“, heißt es in dem Dokument, und dass diese im Notfall für Rettungskräfte hätten geöffnet werden können. Geprüfte und zertifizierte Sperr-Systeme – „die ein Einfahren auf den Weihnachtsmarkt hätten verhindern können“ – gebe es ausreichend.

Obwohl der Veranstalter als Verfasser des Sicherheitskonzeptes die Gefahr durch Anschläge mit Fahrzeugen erkannt hat, habe sein Sicherheitskonzept weder Bewertungen zur Wahrscheinlichkeit solcher Taten noch zu einem möglichen Schadensausmaß enthalten. 

Gesonderte Risikoanalysen fehlen

Kritisch sieht der bvvs auch das im Sicherheitskonzept festgeschriebene Schutzziel, unbefugten Autos, Kleintransportern oder Lkw eine Zufahrt zum Markt zu „erschweren“. Die getroffenen Maßnahmen würden diesem Schutzziel erstens nicht gerecht. Zweitens sei das Schutzziel unpräzise. Drittens fuße es nicht auf einer grundlegenden Gefährdungsanalyse. Auch hätte es laut bvvs eine gesonderte Risikoanalyse für jede einzelne der verschiedenen Zufahrten und angepasste Maßnahmen geben müssen.

Damit nicht genug: „Ein eigenständiges, strukturiertes Zufahrtsschutzkonzept als Anlage zum Sicherheitskonzept hätte bestehen müssen“, so die Verfasser des Berichts. Fazit des bvvs: Die vorliegende Planung genüge nicht den Anforderungen einschlägiger Regelwerke.

Problematisch war offenbar auch der Einsatz der großen Betonquader als Schutzbarriere. Das entspreche dem Stand der Technik von 2017. Komme ein solches nicht-zertifiziertes System dennoch weiter zum Einsatz, müssten die Blöcke mit ausreichend großen Schutzabständen zum Publikumsverkehr aufgestellt werden.

Betonblöcke nicht ausreichend

Nach MDR-Recherchen herrscht in der Sicherheitsbranche weitgehende Einigkeit darüber, dass Betonblöcke ausreichend schnelle oder schwere Fahrzeuge nicht aufhalten und im ungünstigsten Fall sogar selbst zum Geschoss werden können. Vor solchen Sperren seien daher weitere „geschwindigkeitsreduzierende Maßnahmen“ zu ergreifen. In Magdeburg standen nach bisherigem Kenntnisstand dagegen Betonsteine unmittelbar angrenzend an das Veranstaltungsgelände.

Bei den Befragungen im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Attentat im sachsen-anhaltischen Landtag verwiesen Vertreter der Stadt mit Blick auf die offenen Zufahrten immer wieder auf die Polizei. Man habe sich darauf verlassen, dass Polizei die Lücken mit Einsatzfahrzeugen als mobile Sperren schützt, sagte sinngemäß etwa der Beigeordnete für Personal, Bürgerservice und Ordnung, Ronni Krug, Anfang August. 

Auch hierauf nimmt das Gutachten Bezug: Auf einer Rasterkarte zum Sicherheitskonzept würden „mobile Polizeisperren“ genannt. „Diese werden an keiner Stelle weiter definiert. Art und Ziel dieser Sperren bleiben unklar.“ Eine hinreichend verbindliche Verankerung im Sicherheitskonzept fehlt demnach also.

Kein strukturierter Notfallplan

Nicht nur beim Thema Zufahrtsschutz kommen die Gutachter zu verheerenden Ergebnissen. So sei im Sicherheitskonzept kein strukturierter Notfallplan enthalten. „Das stellt sich als gravierender Mangel heraus, welcher im Lagefall zu unklaren, unkoordinierten Abläufen führen kann“, heißt es im Zwischenbericht.

Mehreren im Sicherheitskonzept identifizierten Risiken würden keine Maßnahmen entgegengestellt, die diese Gefahren beseitigten. Dargestellte Abläufe und Führungsstruktur entsprächen nicht den anerkannten Standards für eine sichere Veranstaltungsorganisation.

Die Ergebnisse der Analyse dürften nun die Frage nach einer Mitverantwortung der zuständigen Akteure und Behörden rund um den Magdeburger Weihnachtsmarkt erneut aufwerfen. Im Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Landtages hatten Vertreter der Stadt immer wieder fehlende gesetzliche Vorgaben zu Sicherheitskonzepten und Zufahrtsschutz beklagt.

Der bvvs kommt auch in dieser Frage zu einer für die Stadt Magdeburg unangenehmen Antwort. Auch wenn Sachsen-Anhalt keine Vorgaben zum Einsatz von zertifizierten Sperren mache, hätten zum Zeitpunkt der Veranstaltung bereits der Leitfaden der Polizei „Schutz vor Überfahrtaten im öffentlichen Raum“ und sowie einschlägige DIN-Richtlinien gegolten.

Wer ist verantwortlich?

Die Frage der Verantwortung für das Geschehen sowie seiner Bewertung wird Sachsen-Anhalt noch eine Weile beschäftigen. Innenministerin Tamara Zieschang sagte dem am Montag tagenden Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des dortigen Landtags, dass zwar grundsätzlich Veranstalter und Stadt für das Sicherheitskonzept verantwortlich seien. Doch auch der Polizei hätten die darin enthaltenen Lücken und Unstimmigkeiten auffallen müssen.

Ebenso ist der Abschlussbericht der Sonderkommission „Markt“ des Landeskriminalamtes Sachsen-Anhalt und der Polizeiinspektion Halle zum selben Ergebnis gekommen, wie zuvor schon der Generalbundesanwalt – bei dem Geschehen handele es sich um eine Amokfahrt und kein Attentat.

Michael Reif, Sprecher der Stadt Magdeburg, erklärte auf MDR-Anfrage, ausdrücklich sei es das Ziel der Stadt Magdeburg gewesen, „den Finger in die Wunde zu legen“ und Schwächen aufzudecken. Reif verwies darauf, dass im Gutachten auch betont werde, dass keine persönlichen oder juristischen Schuldzuweisung vorgenommen würden. 

Verantwortlich für die Planung und sichere Durchführung von Großveranstaltung seien immer mehrere Beteiligte. Der Zwischenbericht werde zunächst in der Verwaltung und später mit allen Beteiligten ausgewertet, so Reif.

Veranstalter verweist auf den Staat

Der Geschäftsführer der Weihnachtsmarkt GmbH, Paul-Gerhard Stieger, als Veranstalter teilte auf MDR-Nachfrage mit, er kenne nur wenige Inhalte des bvvs-Berichts aus mündlicher Mitteilung. Aus seiner Sicht ist die Erstellung eines Zufahrtsschutzkonzepts nicht Aufgabe des Veranstalters. Dies fordere auch der aktuelle Leitfaden „Sicherheit für Großveranstaltungen“ des Landesverwaltungsamtes nicht. Der Schutz vor terroristischen Gefahren obliege dem Staat.

Die Weihnachtsmarkt GmbH sei nur verantwortlich für das „innere Sicherheitskonzept“, das sich mit Gefahren aus dem Marktbetrieb beschäftige. Hinsichtlich des Sicherheitskonzepts für den Weihnachtsmarkt 2024 sagte Stieger: „Es gab seitens Behörden (Ordnungsamt, Feuerwehr, Polizei) keinerlei sicherheitsrelevante Kritik oder Beschwerden an den von der Weihnachtsmarkt GmbH umgesetzten Maßnahmen.“

Die um den Magdeburger Weihnachtsmarkt aufgestellten Betonsteine befänden sich in der Verantwortlichkeit der Landeshauptstadt Magdeburg, so Stieger.

Bundesverband reagiert auf Berichterstattung

Der von der Stadt Magdeburg mit der Ausarbeitung beauftragte Bundesverband bvvs reagierte mit einer Pressemitteilung auf die Berichterstattung. Der Zwischenbericht enthalte demnach an keiner Stelle die Behauptung, der Anschlag hätte verhindert werden können. Zwischen einem mangelhaften Sicherheitskonzept und dem Eintritt eines terroristischen Anschlags bestehe kein zwingender Zusammenhang, erklärte der Verband. Zudem handle es sich bei der Ausarbeitung nicht um ein Gutachten, sondern um eine Analyse des Sicherheitskonzepts.