Gern wäre Caroline Wahl während des Gesprächs Fähre gefahren. Oder sie hätte sich bei den Robben oder den Fischbrötchen an der Kiellinie getroffen. Aber die Abfahrtszeiten passen nicht, und dann regnet es auch noch und ist wegen eines Segel-Events so voll in der Stadt, dass sie lieber zu sich nach Hause einlädt. Das Wasser, das die Autorin so liebt, gibt es auch dort: Aus ihrer Wohnung geht ein wundervoller Blick auf die Kieler Förde. Sie freue sich jeden Tag darüber, sagt Caroline Wahl.

Die 30-Jährige, vom Spiegel als „Shootingstar der Literatur” bezeichnet, hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich: Vor zwei Jahren war ihr Debüt „22 Bahnen” um Heldin Tilda und deren kleine Schwester Ida, die mit einer alkoholkranken Mutter aufwachsen, ein Bestseller – hochgelobt, mehrfach prämiert. Nur ein Jahr später wurde der Nachfolger „Windstärke 17” ebenso zum Erfolg, der erzählt, wie es mit Ida weitergeht. Und Caroline Wahl machte keine Pause: Gerade erschien ihr neuer Roman „Die Assistentin“. Und am 4. September läuft die Verfilmung ihres Erstlings in den Kinos an.

Sie habe sich in Kiel verliebt – wegen des Meers und der Menschen


Doch das ist an diesem wechselhaften Mittwochnachmittag Anfang August noch ein paar Wochen hin. Caroline Wahl kann nochmal Luft holen in Kiel, bevor es auf Lesereise geht. Aber warum eigentlich Kiel? Caroline Wahl wurde in Mainz geboren, wuchs bei Heidelberg auf, lebte in Tübingen, Berlin und Zürich. Kiel war nicht unbedingt naheliegend. Doch mit dem Erfolg tat sie zum ersten Mal das, was ihr immer schon im Kopf – oder eher im Bauch – herumschwirrte: Sie zog ans Meer. Zuerst nach Rostock, seit Herbst letzten Jahres lebt sie nun in Kiel. Und? 

Liebt das Meer: Caroline Wahl.
Foto: Michael Ruff

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Ihre Eltern seien gerade mit dem Wohnwagen auf einem Campingplatz in der Nähe zu Besuch, erzählt Caroline Wahl. „Wenn ich mit ihnen an der Kiellinie bin, habe ich fast Mitleid, dass sie wieder fahren müssen.” Sie wurde oft gefragt: Warum Kiel? So oft, dass sie der Frage im „Spiegel” einen ganzen Text widmete, um fortan nie mehr auf sie antworten zu müssen. Sie habe immer schon am Meer leben wollen, und dann habe sie sich in Kiel verliebt, schrieb sie, wegen des Meers, wegen der Kiellinie, wegen der Fähren und Menschen, die Dinge am Wasser tun und offen und entspannt sind.

„Ich habe das erste Mal in einer Stadt das Gefühl, dass ich angekommen bin.“

Caroline Wahl

Autorin

Sie mag auch keine allzu malerischen Städte, sondern das Raue, Hässliche. „Mal gucken, wie lange ich da bleibe”, hatte sie gesagt, bevor sie kam. Und, weiß sie es schon? „Ich habe das erste Mal in einer Stadt das Gefühl, dass ich angekommen bin”, sagt die Autorin nun an diesem wechselhaften Mittwoch Anfang August in ihrer Wohnung mit diesem herrlichen Blick auf das Wasser, über dem nach einem Schauer die Wolken aufreißen.

Manchmal schießen ihr Glücksmomente rein

Mitte Juli schrieb Caroline Wahl auf Instagram: „ich will aber nicht in den urlaub fliegen oder fahren, weil: hä!? ich lebe doch in kiel! ich darf meinen ersten sommer in kiel doch nicht verpassen!!!” Sie schreibt dort regelmäßig über ihren Tag, ihre Gefühle, postet ein Foto von sich oder der Leiter, „ihrer” ganz bestimmten gelben Leiter an der Kiellinie, zu der sie jeden Tag läuft, um dort zu baden oder einfach nur ein Foto zu machen und zu staunen, dass die Förde jeden Tag anders aussieht. Wenn man die vielen Fotos nacheinander anguckt, ist es wie ein Archiv der Stimmungen, ein Daumenkino der Liebe zum Meer. 


Nun stand aber diese gelbe Leiter in diesem Sommer wirklich sehr oft im Regen – immer noch okay, der Sommer in Kiel? „Wenn ich dort abends baden gehe, ist es bei jedem Wetter schön”, sagt Caroline Wahl. Wobei sie sich letztens eine Nierenbeckenentzündung geholt hat, weil sie mit nassen Klamotten nach Hause gelaufen ist (“Man denkt ja immer, man steckt alles weg.”). Also, über mehr Sonne würde sie sich jetzt auch nicht beklagen. Es ist schwer, etwas zu finden, worüber Caroline Wahl sich momentan beklagt, und warum sollte man auch?


Manchmal hat sie Glücksmomente, die reinschießen. Wenn sie mit dem Auto über die Landstraße an die Ostsee fährt. Wenn sie sandig und mit nassem Haar zurückkommt und es „so krass riecht”. Wenn sie nach einer Reise in ihre Wohnung in Kiel zurückkehrt. Eine Stadt, die vielleicht auch deshalb ihr Zuhause werden konnte, weil sie mit dem Schreiben jetzt ihr Zuhause gefunden hat, sagt sie.

Caroline Wahl an ihrer gelben Leiter: Ein Zuhause im Schreiben – ein Zuhause in Kiel.
Foto: Michael Ruff

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„Der schönste Moment“, sich Autorin nennen zu dürfen

Dabei war es nicht unbedingt Caroline Wahls Lebensplan, Autorin zu werden, obwohl sie schon als Kind nicht nur gern las, sondern auch schrieb. Doch niemand bestärkte sie, und sie traute sich nicht. Erst als sie als Verlagsassistentin eingeschickte Manuskripte sichtete, fasste sie Mut und schrieb „22 Bahnen” in nur drei Monaten. 

Tilda und Ida in der Verfilmung von „22 Bahnen“, die am 4. September in die Kinos kommt.
Foto: Constantin Film

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„Das war der schönste Moment: als ich sagen konnte, ich bin hauptberuflich Autorin. Zum ersten Mal hat sich alles richtig angefühlt”, sagte sie dazu einmal in einem Interview. An diesem Mittwochnachmittag sagt sie: „Nichts erfüllt mich so, wie wenn ich weiß, ich darf schreiben.” Und weil sie dieses Gefühl festhalten wollte, schrieb sie gleich weiter, und sie tut es immer noch: mittlerweile an ihrem vierten Roman, die Schlagzahl ist hoch. Vielleicht muss es so sein, wenn man so schreibt wie sie: intuitiv, wenig geplant. „Ich gehe mit der Figur und möchte dann auch nicht so lange Pausen machen. Ich bin dann voll drin.” Caroline Wahl erzählt, dass sie am Anfang nie weiß, wie ihre Geschichte endet und manchmal selbst überrascht ist, was passiert. 

Wie viel Autobiografisches steckt in ihren Büchern?


Und die Ideen? Zwei Whiteboards bei Ikea gekauft, zwei Ideen notiert, eine davon ausgewählt, fertig war der Anfang ihres Romans, an dem sie gerade arbeitet. Eine Protagonistin, die unterwegs ist, mehr verrät sie nicht. Und so weit ist es ja auch noch nicht, denn jetzt ist erstmal „Die Assistentin” da. Das Buch ist ganz anders als die Coming-of-Age-Geschichten um Tilda und Ida und hat doch wieder eine zugleich starke und verletzliche Frau als Protagonistin: Die junge Assistentin eines mächtigen Verlegers kämpft an einem toxischen Arbeitsplatz um Anerkennung und sucht ihren eigenen Weg. 


Und nicht nur, weil auch Caroline Wahl mal als Verlagsassistentin gearbeitet hat, drängt sich die Frage auf, wie viel Autobiografisches in diesem Buch steckt. „Natürlich fließen immer eigene Erfahrungen mit ein. Aber das ist nicht meine Geschichte, die ich da erzähle”, antwortet die Autorin. Sie werde das bei all ihren Büchern immer wieder gefragt, schiebt sie hinterher, und wahrscheinlich findet sie die Frage ein bisschen langweilig, auch wenn sie zu freundlich ist, um es zu zeigen. Lieber erzählt sie, wie es wirklich passiert: Wie sie eine Figur erschafft, sich überlegt, was sie tut, wie sie tickt. Und dann mit ihr loszieht und schaut, was ihr begegnet. „Mein größter Wunsch ist, dass die Leute sagen: Das ist ein cooler Roman.” Und sich nicht ständig fragen, wie er gemeint oder wie autobiografisch oder gesellschaftskritisch er sein könnte.

„Ein cooler Roman“: Caroline Wahl.
Foto: Michael Ruff

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Kritik, weil sie sagt, sie wolle die Beste werden


Ein cooler Roman also. Spürt sie jetzt, ein paar Wochen vor seinem Erscheinen, Angst, dass zu wenige ihn cool finden könnten? „Ich freue mich einfach”, sagt Caroline Wahl. Und was, wenn „Die Assistentin” nicht gekauft wird? „Ich glaube, man darf sich da nicht so wichtig nehmen. Es geht immer hoch und runter.” Und überhaupt: „Ich kann ja dann immer noch, wenn ich merke, dass ,Die Assistentin’ nicht so gut läuft, nochmal so einen ,22 Bahnen’-Text raushauen.”

„Und jetzt, wo ich Gehör finde, traue ich mich, diese laute, ehrliche, selbstbewusste, ehrgeizige Seite von mir rauszubrüllen.“

Caroline Wahl

Autorin


Caroline Wahl eckt auch an. Einige finden es anmaßend, dass sie in „22 Bahnen” über ein Milieu schreibt, dem sie nicht entstammt. „Wenn Autor*Innen nur darüber schreiben dürften, was sie selbst erlebt haben, dann verliert Literatur das Schönste”, sagt sie selbst dazu. Andere stören sich daran, dass die Autorin so selbstbewusst auftritt: Sie sagt offen, dass sie die beste Autorin Deutschlands werden möchte und gab ihre Enttäuschung zu, als sie für „22 Bahnen” nicht für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. „Jeder soll sich doch trauen, offen über seine Ziele und Wünsche zu sprechen”, findet die 30-Jährige. Sie möchte sich bei einem Interview nie Gedanken darüber machen, ob ihr etwas schaden könnte. „Weil mir das die Freude und Spontaneität nimmt. Und weil ich weiß, dass die Angst, etwas falsch zu machen, bei mir sehr viel kaputt macht.” 

Selbstbewusst: Caroline Wahl
Foto: Frederike Wetzels

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Für die Rückfahrt bietet sie Schokomuffins an

Also haut sie raus, endlich: Sie sei schon als Kind laut und wild gewesen, doch weil ein lautes und wildes Mädchen nicht immer gefragt war, habe sie gelernt, es ein Stück weit wegzudrücken. „Und jetzt, wo ich Gehör finde, traue ich mich, diese laute, ehrliche, selbstbewusste, ehrgeizige Seite von mir rauszubrüllen.” Sie erzählt von einer jungen Frau, die letztens bei einer Lesung zu ihr kam und ihr sagte, dass Wahls Weg sie ermutigt habe, an einem Schreibwettbewerb teilzunehmen. Das freut sie.


Wenn man sie trifft, ist es schwer, Caroline Wahl nicht zu mögen – aber warum sollte man auch nicht? Sie hat eine natürliche Offenheit und arbeitet nicht nur Fragen ab, sondern scheint ehrlich interessiert an dem Gespräch und ihrem Gegenüber. Zum Abschied bietet sie Schokomuffins und Wasser für die Rückfahrt an. Gleich hat sie schon das nächste Interview, aber Caroline Wahl wirkt nicht gestresst. Für sie gehört es eben zum Erfolg dazu, und den genießt sie.


Einen Tag später, gegen Abend, postet sie wieder ein Foto ihrer gelben Leiter an der Kiellinie. Das Wasser schimmert grün und schwarz und blau und darüber hängen tiefe Wolken. Es sieht sehr schön aus.

Caroline Wahl: Die Assistentin. Rowohlt 2025, ISBN 978-3644024120

Neues Buch: „Die Assistentin“
Foto: Rowohlt

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„22 Bahnen“ (Constantin Film), ab 4. September im Kino

„22 Bahnen“
Foto: Constantin Film

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