Im pfälzischen Deidesheim, wo Helmut Kohl mit Michail Gorbatschow und der Queen Saumagen aß, genießt man heute anders: leichter, vielseitiger, in mediterraner Atmosphäre. Die hübsche Altstadt ist mit ihren Restaurants, Hotels und Weingütern sogar für Franzosen eine Attraktion.
Dass unsere französischen Nachbarn nicht automatisch an Deutschland denken, wenn es um gutes Essen und Trinken und überhaupt ums Savoir-vivre geht, ist ein uraltes Klischee. Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl hat es unterfüttert, als er nicht nur den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow oder die Queen, sondern auch seine französischen Kollegen François Mitterrand und Jacques Chirac zum Verzehr von „Pfälzer Saumagen“ einlud. Übrigens, das dürfte als Beweis der guten europäischen Beziehungen seitens der Gäste gelten, die eine geschnittene Brühwurst aus Schweinefleisch mit eitrig-eierlikörgelben Kartoffelstücken aßen. Dazu ließ Kohl liebliche Rieslinge reichen, die mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch nicht jedermanns Sache sind.
Der Marktplatz von Deidesheim ist selten so leer. Zu Pfingsten kommen hier Tausende, um einen Geißbock zu (ver)steigern – und das schon seit mehr als 600 Jahren.
(Foto: P. Littger)
Ausgerechnet der damalige Ort des Geschehens – das pfälzische Städtchen Deidesheim – hat mittlerweile einen Wandel erlebt, der sich sehen, schmecken und rundherum genießen lassen kann. Restaurants und Hotels auf höchstem europäischem Niveau sowie mehrere Weingüter, die sich wieder zu den besten in Deutschland zählen dürfen, locken jedes Jahr mehr als 100.000 Besucher. Darunter sind nicht nur Hedonisten aus Frankfurt oder Köln, sondern auch aus Frankreich, der Schweiz oder Italien. Viele kommen in sportlichen, oft alten und nicht selten offenen Autos.
Das schönste Weindorf
Obwohl Deidesheim seit 630 Jahren das Stadtrecht besitzt, zählt es gerade einmal 3700 Einwohner. Das ist weniger als ein Viertel von Baiersbronn, dem Schwarzwalddorf, das als kulinarischer Hotspot in Deutschland gilt – und verleitet zur Annahme, dass Deidesheim in Wahrheit das heißeste Nest für Genuss ist. Während des zweiwöchigen Weinfestes im August schien es auf jeden Fall das Schönste zu sein.
Zypressen im Deidesheimer Weinberg Hohenmorgen. Neben und hinter dem Fotografen stehen Apfel-, Pfirsich- und Mandelbäume.
(Foto: P. Littger)
Stilprägend für die vorzügliche Entwicklung ist das prächtige Herrenhaus des Weinguts Von Winning, das am höchsten Punkt der Deidesheimer Weinstraße liegt. Zwei Säuleneichen zieren die Sandsteinvilla aus dem 19. Jahrhundert und wirken wie Zypressen in Südeuropa, die ein toskanisches Flair verbreiten. Das Hofrestaurant „Leopold“ könnte ein Bistro in Brüssel oder Bordeaux sein. Und probiert man die trockenen, sehr aromatischen und in Holzfässern gereiften Von-Winning-Weine, schmeckt man eine Machart, die im französischen Burgund typisch ist.
„Wir können hier so vielseitig sein, weil uns Deidesheim die Möglichkeit dazu gibt“, sagt Stephan Attmann. Der geborene Mannheimer leitet seit 2008 den Keller und die Geschäfte des 60-Hektar großen Weingutes. Dass er „Von Winning“ zu einer sehr gefragten Marke für deutsche Spitzenweine gemacht hat, zeigt der Export in mittlerweile 47 Länder.
Warum in die Ferne schweifen?
Worauf Attmann anspielt, sind die Standortvorteile von Deidesheim: Zum einen ein besonderes, beinahe mediterranes Klima entlang des Pfälzerwalds, dem sogenannten Haardtrand. Nicht ohne Grund ist auch von“der Toskana Deutschlands“ die Rede – wo Bananen, Kiwis, Mandarinen, Zitronen und Apfelsinen, Granatäpfel, Kakteen und Palmen wachsen, zum Beispiel im Schlosspark von Deidesheim. Während der Luftkurort selbstverständlich Teil einer traditionellen deutschen Kulturlandschaft ist, zu der auch das 20 Kilometer südlich gelegene Hambacher Schloss gehört, entwickelt er vor allem in den Sommermonaten ein leichtes, geradezu undeutsches Lebensgefühl.
Attmann steht in der kleinen Vinothek im Hof hinter der Villa und zeigt eine lange Galerie von Weinflaschen. Sie fallen mit opulenten Etiketten und einem großen, geschwungenen, meistens goldenen „W“ ins Auge. Schrift, Farben und Bezeichnungen wie „OTC 500“ bilden einen eklektischen Mix aus Renaissance, Art Nouveau und Moderne. „Sie sind Ausdruck einer Zeitlosigkeit, die wir kultivieren und verkaufen.“ Gestaltet hat sie Markus Weisbeck, ein Professor an der Bauhaus-Universität in Weimar, dem damit nicht nur eine Wiedererkennung für das Weingut Von Winning, sondern für ganz Deidesheim gelungen ist. Neben „Tradition und Vision“, wie es Attmann nennt, spiegeln sie die mannigfaltigen Farbverläufe, die man das Jahr hindurch im Himmel über dem Haardt beobachten kann. Ein Naturphänomen, das jede künstliche Ambientebeleuchtung übertrumpft.
An dieser Stelle existiert seit beinahe 900 Jahren ein Restaurant. Es hieß aber nicht immer „Zur Kanne“ und sieht erst seit ca. 200 Jahren so aus.
(Foto: P. Littger)
Notwendig für den Aufstieg von Deidesheim zu einem Mekka der Genüsse waren die Investitionen des 2013 verstorbenen Unternehmers Achim Niederberger. Er kaufte die drei berühmten, aber vernachlässigten Weingüter Bassermann-Jordan, Reichsrat von Buhl (das der Familie zu Guttenberg gehörte) und Dr. Deinhard und ließ sie jeweils von Grund auf erneuern. Der siegesbewusste Name „Von Winning“, der „Dr. Deinhard“ ersetzte, geht auf Leopold von Winning zurück, einen Mitbegründer des Verbands der Prädikatsweingüter VDP.
Zugleich gründete Niederberger die Hotels „Ketschauer Hof“ mit fünf Sternen und „Kaisergarten“ mit vier Sternen (und einem Schwimmbad) sowie mehrere Restaurants, darunter das mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete L.A. Jordan. Es bietet – wie das wenige Kilometer entfernte Zwei-Sterne-Restaurant „Intense“ in Wachenheim – eine vorzügliche Mischung der lokalen und asiatischen, vorrangig der japanischen Küche.
Das alles bedeutet nicht, dass das teils mittelalterliche Städtchen – die Grundmauern des Restaurants „Zur Kanne“ sind von 1160 – das Reizende2 oder Anheimelnde verloren hätten, das auch der britischen Premierministerin Margaret Thatcher aufgefallen war. Für sie hatte Helmut Kohl 1989 in Deidesheim Hof gehalten. „Ich glaube, die Deutschen nennen es ‚Gemütlichkeit‘, schrieb sie in ihren Erinnerungen.
Diese Gemütlichkeit kann man weiterhin im „Deidesheimer Hof“ erleben, wo Kohl bis zu seinem Tod Stammgast war. Es ist das zweite Fünf-Sterne-Haus im Ort. Im Restaurant „Sankt Urban“ gibt es noch heute neben einem grünen Kachelofen die „Kohl-Ecke“, und auf der Vesperkarte steht eine Rinderkraftbrühe namens „Kanzlersuppe“. Wer unterdessen den wohl edelsten Saumagen der Welt probieren will, bekommt ihn im hoteleigenen Ein-Sterne-Restaurant „Schwarzer Hahn“ mit Trüffel und sogar mit Foie Gras.
Die Französin Louise Gaye – eine Verwandte des amerikanischen Sängers Marvin Gaye – ist im Restaurant „Leopold“ auch für die gute Stimmung verantwortlich.
(Foto: P. Littger)
Für meinen Mann keinen Alkohol bitte
„Ob Kohl das gemocht hätte, bezweifle ich“, sagt Louise Gaye mit dem Akzent ihrer Heimat Frankreich. Sie genießt es, seit einem guten Jahr Kellnerin im Restaurant „Leopold“ zu sein – ist aber nicht zum ersten Mal in Deidesheim. 1993 arbeitete sie schon einmal im „Deidesheimer Hof“ und bediente Kohl, übrigens in einer Runde mit Angela Merkel und Gerhard Schröder. „Als ich ihm den Teller reichte, sagte ich: ‚Und Sie müssen der deutsche Bundeskanzler sein‘. Daraufhin habe er gelacht – und er hat sie sich gemerkt.
„22 Jahre später erkannte er mich wieder, als ich ihn zum letzten Mal in Speyer bediente“, erinnert sich Gaye. „Er fragte mich: Bist du die Französin, die mich in Deidesheim nicht erkannt hat?“ Dann bat er sie um einen Riesling, was ein Problem war, da Kohls Frau zuvor ein striktes Alkoholverbot ausgegeben hatte. Gaye gab ihm trotzdem, was er verlangte – in einem Apfelsaftglas. „Dafür hat er sich mit Handschlag bedankt.“
Es versteht sich von selbst, dass Louise Gaye diese Geschichte schon zig Male erzählt hat. Ihren Landsleuten, die Deidesheim entdecken. Also auf Französisch. Und gelegentlich auch bei Saumagen und lieblichem Wein.