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„Synergie der Fähigkeiten“ oder „Pflaster für eine tiefere Wunde“: ERAM sollen in Russlands Gesellschaft den Glauben an Putin bis ins Mark erschüttern.
Kiew – „Für die Ukraine ist es jetzt wichtig, über Waffen zu verfügen, mit denen sie den feindlichen Rücken aus einer Entfernung von 200 Kilometern oder mehr angreifen kann“, sagt Igor Romanenko. Den Generalleutnant und ehemalige stellvertretende Generalstabschef der ukrainischen Streitkräfte zitiert aktuell die ukrainische Nachrichtenagentur Unian. Romanenko zufolge bräuchten die Verteidiger im Ukraine-Krieg dringend luftgestützte ERAM-Raketen, um im Rücken von Wladimir Putins Invasionstruppen angreifen zu können. Gleichzeitig kritisiert er die, wie er findet, gestutzten F-16-Kampfjets.
Neuer Zoff um F-16-Kampfjet: „Leider erlauben uns die Amerikaner nicht, den Gripen zu erwerben“
„Leider erlauben uns die Amerikaner nicht, den Gripen zu erwerben, den wir wirklich brauchen“, sagt Romanenko und zündelt erneut an der Diskussion, welcher Kampfjet für die Ukraine den meisten Sinn macht beziehungsweise gemacht hätte – die Ukraine hatte lange geliebäugelt mit dem schwedischen Allround-Jet; die Schweden hatten ihr diesbezügliches Engagement allerdings zurückgefahren, weil sich der Westen auf die Lieferung der F-16 versteift hatte und ein weiterer Jet die ukrainische Logistik überfordert hätte. Grundsätzlich bemängelt der Offizier die mangelhafte Bewaffnung der ukrainischen Kampfjets. Romanenko zufolge würden die russischen Luft-Luft-Raketen mindestens über 300 Kilometer wirken – damit wäre für die Ukraine ohnehin kein Herankommen an die Gegner.
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Laut dem Wall Street Journal habe die Trump-Regierung kürzlich den Verkauf von 3.350 luftgestützten Raketen mit erweiterter Reichweite (Extended Range Active Missile, kurz ERAM) genehmigt. Das gemäß den WSJ-Angaben 850 Millionen US-Dollar umfassende Waffenpaket soll Anfang Oktober die Front erreichen und größtenteils von europäischen Staaten finanziert worden sein. Die Raketen mit erweiterter Reichweite beschreibt der Defense Express als ein Hybrid aus Flugzeugbombe und Marschflugkörper mit einer theoretischen Reichweite: von etwas über 400 Kilometern, einer Fluggeschwindigkeit von mindestens 700 Kilometern pro Stunde und einer Präzision von maximal zehn Metern Abweichung zum anvisierten Ziel.
Donald Trumps ERAM-Coup: Das größte Verkaufsargument ist der relativ niedrige Preis
Als Nutzlast sei ein Gefechtskopf mit einem Gewicht von 260 Kilogramm angegeben; neben seiner „hohen Splitterwirkung“ wird der Rakete auch eine „signifikante Durchschlagsleistung gegen gehärtete Ziele“ attestiert, schreibt Kristóf Nagy. Der Autor des Militärmagazins hartpunkt erinnert daran, dass die USA diese Distanz-Munition entwickelt habe, um der Ukraine eine kostengünstige Verteidigung zu ermöglichen. „Das größte Verkaufsargument für das klamme ukrainische Militär ist der relativ niedrige Preis“, schreibt auch Brandon J. Weichert. Wie er im Magazin The National Interest behauptet, machten diese Eigenschaften ERAM „zu einem potenziell wichtigen Instrument, um die russische Logistik, Kommandozentralen und Marineanlagen im Schwarzen Meer zu stören und so den Einfluss der Ukraine auf umkämpfte Gebiete auszuweiten“. Das Magazin The War Zone schätzt die Waffe auf einen Stückpreis von 300.000 US-Doller.
„Die Dynamik des Krieges begünstigt Russland aufgrund der Erschöpfung der Ukraine, der Rekrutierungsprobleme und der wirtschaftlichen Belastung. ERAM kann diese systemischen Probleme nicht lösen. Es ist nur ein Pflaster für eine tiefere Wunde.“
Also endlich der erhoffte Gamechanger im Ukraine-Krieg? Nein, urteilt Weichert. Wie an verschiedenen Medienberichten über die vergangenen Wochen und Monate ablesbar war, habe die Ukraine Russland längst im Rücken der Truppen in den Schützengräben angegriffen; allerdings ohne die erhoffte Wirkung, dass Putins Einheiten an irgendeiner Stelle in sich zusammengefallen wären. „Russland verfügt schlicht über genügend strategische Tiefe, um solchen Angriffen standzuhalten“, so der Autor. Ihm zufolge sei diese Rakete ein Mittel, um den russischen Truppen Verluste beizubringen und in ihre Logistik einzubrechen. Auch die Zahl der jetzt gelieferten Raketen könnte über deren tatsächlichen Einfluss auf das Kriegsgeschehen hinwegtäuschen, so Weichert.
„3.350 Raketen klingen zwar beträchtlich, doch Russlands riesiges Territorium und seine Anpassungstaktiken – wie die Verlagerung von Truppen und die Befestigung von Stellungen – schwächen ihre Wirkung“, schreibt der leitende Redakteur für nationale Sicherheit. Ihn erinnert die Diskussion um die ERAM und die in diese Waffen gesetzten Hoffnungen an die früher von der Ukraine erflehte Lieferung von ATACMS (Army Tactical Missile System). Deren begrenzter Einsatz habe zwar zu taktischen Erfolgen geführt, also einige Scharmützel für die Ukraine entschieden; aber Russlands Überlegenheit in der Zahl artilleristischer Kräfte sowie Artillerie allgemein und dazugehöriger Munition bestünde im Verhältnis unverrückbar fort. Anders ausgedrückt: Wenn die Ukraine ihre ERAM verschossen hat, wird Russland wahrscheinlich immer noch Krieg führen können.
ERAM als Hoffnungsträger im Ukraine-Krieg: „Synergie amerikanischer und ukrainischer Fähigkeiten“
„Die Dynamik des Krieges begünstigt Russland aufgrund der Erschöpfung der Ukraine, der Rekrutierungsprobleme und der wirtschaftlichen Belastung. ERAM kann diese systemischen Probleme nicht lösen. Es ist nur ein Pflaster für eine tiefere Wunde“, schreibt Weichert im National Interest. Dafür erhält er Kontra von Mykhailo Samus: Der sieht im Nebeneinander beziehungsweise Zusammenwirken der US-amerikanischen ERAM und den Marschflugkörpern Flamingo und Neptune die „Synergie amerikanischer und ukrainischer Fähigkeiten“, wie er auf der unabhängigen Online-Plattform New Geopolitics Research Network schreibt. Im Grunde stilisiert der Gründer der Thinktank-Plattform in den ERAM zu so etwas wie „Argumentationshilfen“ – Mittel um die Friedensbemühungen Donald Trumps maßgeblich zu beeinflussen.
Im Fokus des Volkes: Die F-16-Kampfjets der Ukraine bleiben trotz ausbleibender überwältigender Erfolge die Hoffnungsträger des Volkes. Die ERAM-Raketen sollen der Waffen mehr Reichweite verschaffen und Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zwingen. © IMAGO/Senior Airman Duncan C. Bevan/U.S Airforce
Insofern hält Samus auch die Reichweitenbeschränkung für die ERAM durch die USA für kontraproduktiv. Die USA verlangen von der Ukraine, Angriffe aus russisches Kernland mit vom Westen gelieferten Waffen durch die Trump-Regierung autorisieren zu lassen. „Sollte Putin sich bei Trump darüber beschweren, dass die Ukraine russisches Territorium mit Raketen beschießt, und Trump Kiew auffordern, damit aufzuhören, müsste Putin einem Waffenstillstand zustimmen, und die Ukraine würde ebenfalls ihre Angriffe auf Russland einstellen“, schreibt Samus über die Gleichung, die er für das Ende des Ukraine-Krieges aufmacht. Insofern folgt er der Argumentation, mit der Igor Romanenko jetzt erneut an die Öffentlichkeit gegangen ist.
Doch noch Gripen in den Ukraine-Krieg? Erste Staffel von Flugzeugen „eher früher als später“ geliefert
Während der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar blieb die Lieferung von Gripen-Kampfjets an die Ukraine ein Thema. Breaking Defense berichtete zu der Zeit, dass Micael Johansson davon ausgegangen sei, dass die Ukraine irgendwann mit den schwedischen Tausendsassa-Kampfjets ausgerüstet würde. Möglicherweise mit etwas mehr als einem Dutzend Exemplaren. Laut seiner Äußerung dem Magazin gegenüber, würde zunächst eine langfristige Vereinbarung auf politischer Ebene zu treffen sein bezüglich der Ausbildung der Piloten, Englisch-Kursen und ersten Praxis-Erfahrungen auf der einmotorigen Maschine. „Dies führe dazu, dass eine erste Staffel von Flugzeugen des C/D-Standards ,eher früher als später‘ nach Kiew geliefert werde, wie Breaking Defense den Geschäftsführer des Gripen-Herstellers Saab zitiert hat.
Möglicherweise können die ERAM aber tatsächlich helfen, der russischen Bevölkerung den Krieg deutlicher vor Augen zu führen. Nach Ansicht verschiedener Beobachter gärt das Thema in der russischen Gesellschaft, würde aber nicht thematisiert, weil Putin den Deckel drauf halte, wie eine aktuelle Analyse des Thinktanks Atlantic Council nahe legt. Demnach hätten Putins verschärfte Repressionen und die Menge unerklärlicher Todesfälle unter hochrangigen Offiziellen ein Klima der Angst in der Elite und der Bevölkerung geschaffen, so Brian Whitmore. Der Assistenzprofessor, Podcaster und Moskau-Korrespondent spricht davon, dass die Regierung das Vertrauen der Bevölkerung untergraben und neutrale Gruppen von Regimegegnern effektiv neutralisiert habe.
Bis zu 1,3 Millionen, zum Teil hochgebildete Russen, seien aus dem Land geflohen, um dem Militärdienst oder juristischen Repressionen zu entgehen, so Whitmore. Möglicherweise können die ERAM – selbst in ihrer vergleichsweise geringen Zahl – Russland den Krieg spüren lassen und das Regime in Moskau von innen zersetzen, wie Alexej Jussupow Mitte 2024 nach dem Beschuss von Russlands Territorium beobachtet und für den deutschen Thinktank Friedrich-Ebert-Stiftung festgehalten hat: „Der Krieg kommt nach Hause; der Kreml kann seine Sicherheitsversprechen nicht einhalten. Dies ist in der Tat eine wirksame Botschaft, da der Beschuss von Belgorod und anderen grenznahen Orten in der Vergangenheit die lokale Bevölkerung durchaus in Krisenstimmung versetzt hat.“