Demnächst steht Frankreich ohne Regierung da, wenn Premier François Bayrou, der am 8. September die Vertrauensfrage stellt, zurücktreten muss. Zugleich droht eine neue Protestbewegung im Stil der »Gelbwesten«.
Schlechtwetterprognose für den Herbst in Frankreich: Wenn der bisherige Premierminister François Bayrou die von ihm selbst gewünschte Vertrauensabstimmung am 8. September verliert – wie dies allgemein erwartet wird –, muss er samt seinen Ministern zurücktreten und Frankreich schlittert mit wehenden Trikoloren in eine Regierungskrise. Parallel dazu wächst der Volkszorn, der sich Mitte des Monats mit Streiks und Blockaden entladen kann. Auf den Netzwerken braut sich eine Bewegung zusammen, die an die Proteste der Gelbwesten vor vier Jahren erinnert.
Niemand weiß, was am 10. September in Frankreich wirklich geschehen wird. „Die Mainstream-Medien verstehen eh nichts. Aber ich hoffe, dass etwas abgeht“, sagt Maxime Nicolle alias „Fly Rider“ auf den Netzwerken. Er war einer der Wortführer der „Gelbwestenbewegung“ von 2018/19. Heute aber will er lieber keine persönliche Verantwortung dafür übernehmen, wenn es jetzt zu einer Neuauflage einer Wutbewegung aus der Provinz kommt. Wer hinter dem Aufruf „Bloquons tout le 10 septembre“ („Blockieren wir alles am 10. September!“), steht, ist unklar. Auf Telegram, X, Facebook aber wird seither heiß debattiert, in vielen Städten treffen sich Kollektive zu Diskussionen. Sicher ist nur, dass sich da etwas zusammenbraut.
Unzufriedenheit und Wut
Der Appell zur Revolte hat in den Sommerwochen rasch ein wachsendes Echo in unterschiedlichsten Kreisen gefunden. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Unzufriedenheit oder Wut von Bürgern, die sich von den Amtsträgern und anderen Repräsentanten verachtet und vernachlässigt fühlen. In Frankreich, wo der soziale Dialog nie richtig funktioniert hat, braucht es oft wenig, um wegen des angestauten Unmuts einen großen Konflikt auszulösen. Auslöser der Mobilisierung von unten ist dieses Mal der Regierungsentwurf für einen Sparhaushalt für 2026. Premierminister François Bayrou sagte seinen Landsleuten unverblümt, da helfe nichts, sie müssten halt den Gürtel enger schnallen, um eine gravierende Schuldenkrise wie in Griechenland zu vermeiden. Das empfinden die Sparunwilligen als pure Provokation.
In den letzten Tagen war Bayrou in den Medien omnipräsent. Er scheint seinen voraussehbaren Abgang wie ein persönliches Opfer inszenieren zu wollen. Dass Bayrou nach einer Niederlage bei der Vertrauensabstimmung, die er am 8. September kaum gewinnen kann, der Nation quasi sein politisches Harakiri anbot, brachte auch keinen Stimmungsumschwung. In Paris wird nicht darüber diskutiert, ob der Premier verliert oder noch gewinnen kann, sondern nur noch über die Kandidaten für seine Nachfolge. Die meisten Franzosen erwarten indes nichts von einem neuen Regierungschef. Denn dieser wird, wie Bayrou seit Ende 2024 und vor ihm Michel Barnier, keine parlamentarische Mehrheit haben und wird so den Pressionen der Oppositionsfraktionen ausgesetzt sein. Den immer noch sehr konfusen Aufruf zur Blockade am 10. September unterstützen laut Umfrage rund zwei Drittel von ihnen.
Schreckt sie nicht die Aussicht auf eine Neuauflage der „Gilets jaunes“, die Ende 2018 überall im Land mit ihren gelben Warnwesten gegen eine sinkende Kaufkraft, höhere Steuern und die Schließung öffentlicher Dienste sowie für unzählige andere Forderungen demonstrierten und Blockaden errichteten? Gebracht hatten zum Teil gewaltsamen Proteste, die bis 2020 weitergingen, außer einer Alibi-Debatte und leeren Versprechen von Präsident Emmanuel Macron gar nichts. Die in ihrer Selbstsicherheit erschütterte Zentralmacht in Paris hatte nicht gezögert, mit repressiver Kraft gegen diese Herausforderung auf der Straße vorzugehen.
Geblieben davon ist in diesen meist außerhalb der städtischen Zentren lebenden Bevölkerungskreisen ein verbitterter Zorn und manchmal auch ein Wunsch der Revanche. Der Aufruf für den 10. September tönt für sie wie eine Einladung zu einem zweiten Anlauf. „Das ist nicht die Geburt einer Wutbewegung, sondern eine Wiedergeburt“, meint eine andere historische Figur der Gelbwesten, Jérôme Rodrigues, der bei einer Kundgebung durch eine auf ihn gefeuerte Polizeigranate ein Auge verloren hat und deswegen selbst noch eine offene Rechnung mit der Staatsmacht hat. Andere ehemalige Gelbwesten dagegen bleiben aufgrund ihrer eigenen Erfahrung enttäuscht und sagen, ein zweites Mal würden sie sich nicht in einen Kampf mit persönlichen Opfern einlassen, der dann doch nichts bringe.
Außerdem kommt gerade unter den Ex-Gelbwesten die Befürchtung auf, dass nun die Parteien und Gewerkschaften, die sie das letzte Mal im Stich gelassen hatten, gleich von Beginn die Kontrolle der Bewegung übernehmen und so die Proteste für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren könnten. Als nämlich der Blockade-Appell in den Netzwerken ein Echo fand, sprangen zuerst Linksparteien und dann auch Gewerkschaftsverbände auf den Zug auf, um so den Volkszorn zu organisieren und eventuell zu kanalisieren. Vom Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon bis zu den gemäßigteren Sozialisten wollen alle vorab verhindern, dass die Unzufriedenheit einmal mehr den Rechtspopulisten von Marine Le Pen nützt.
Bleibt es also am 10. September doch bei einem Strohfeuer, um den Druck der Rage erhitzter Gemüter abzulassen? Das dürfte die letzte Hoffnung des Noch-Regierungschefs sein, dessen Popularitätswerte einen Tiefpunkt erreicht haben. Bayrou dramatisiert die Lage des Landes, er setzt darauf, dass eine drohende Regierungskrise seinen Gegnern Angst macht. Die Perspektive, dass Frankreich in diesen ohnehin schon bewegten und gefährlichen Zeiten möglicherweise während Wochen ohne Regierung und ohne Staatshaushalt dasteht, ist ungemütlich und beunruhigt zudem schon die Wirtschaftskreise.
Die Schuldenspirale dreht sich
Schon so nämlich ist Frankreichs Image auf den Finanzmärkten angeschlagen, in der Folge werden die Anleihen immer teurer. Heute bezahlt Frankreich für neue Anleihen mehr an Zinsen als Spanien und Italien, und der Schuldendienst wird zum wichtigsten Ausgabenposten des Staatshaushalts vor der Erziehung und der Verteidigung. Die Schuldenspirale, von der Bayrou bei seiner letzten Moralpredigt an die Nation zur Verteidigung seines Sparhaushalts mit um 44 Milliarden Euro verminderten Ausgaben gesprochen hat, dreht sich bereits.
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