Es gab keine Kutschen oder Reiter, nicht einmal Musik. Der Bundeskanzler ist am Donnerstagmorgen auf dem Flughafen Stansted nordöstlich von London gelandet, anschließend wurde die Delegation in gewöhnlichen Kraftfahrzeugen in die Innenstadt gebracht. Der Antrittsbesuch von Friedrich Merz (CDU) bei seinem Kollegen Keir Starmer in London war, anders als der Besuch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vergangene Woche, kein Staatsbesuch mit royalem Pomp. An der Relevanz der Reise änderte das wenig: Merz und Starmer unterschrieben einen Vertrag, den beide als ersten seiner Art seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichneten.
Der Freundschaftsvertrag sei „historisch für die deutsch-britischen Beziehungen“, sagte Kanzler Merz. Das Dokument heißt nach dem Stadtteil, in dem es unterschrieben wurde, Kensington, im dortigen Victoria & Albert Museum trafen sich Merz und Starmer am Donnerstagmittag. Das Museum ist nach der britischen Queen Victoria und deren deutschem Gatten Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha benannt.
Der Kensington-Vertrag soll Schülerreisen wieder vereinfachen
Der Kensington-Vertrag soll das Verhältnis der beiden Länder für Jahrzehnte prägen. Angehängt an den Vertrag ist eine 17 Projekte umfassende Liste, die Starmer einen „praktischen Arbeitsplan“ nannte. Der Vertrag selbst ist knapp 30 Seiten lang und umfasst in fünf Kapiteln die Bereiche Sicherheit, Verteidigung, Migration, Wirtschaft sowie einen Punkt, der mit „Offene Gesellschaften“ umschrieben wird. Damit sollen „die Kontakte zwischen den Menschen wieder gestärkt werden“, sagte Merz am späten Nachmittag bei einer Pressekonferenz der beiden Regierungschefs im Airbus-Werk in Stevenage, nordwestlich von London. Vor allem die Jugendmobilität liege ihm am Herzen, denn in diesem Punkt, sagte Merz, sei „der Brexit besonders schmerzlich spürbar geworden“. Schülerreisen sollen künftig durch Sammellisten erleichtert werden, die das seit dem Brexit obligatorische Mitführen eines Reisepasses unnötig machen. Außerdem soll eine direkte Zugverbindung zwischen der Insel und Deutschland realisiert werden.
Im Vereinigten Königreich liegt eine bessere Beziehung mit EU-Ländern wie Deutschland, gesellschaftlich gesehen, durchaus im Trend. Der Thinktank „British Foreign Policy Group“ veröffentlichte am Donnerstag eine Umfrage, nach der eine Mehrheit der Briten den USA – dem in London gerne sogenannten „special partner“ –misstraut. Stattdessen wollen 62 Prozent der Briten eine engere Zusammenarbeit mit der EU. Entsprechend bemühte sich Premierminister Starmer in den vergangenen Monaten mit diversen Reisen und Gipfeln, das immer noch spürbare Brexit-Trauma abzumildern.
„Es ist überfällig, dass wir einen solchen Vertrag abschließen.“
In Berlin wiederum heißt es, man könne froh sein, dass Starmer auf Europa setze. Der konservativ-rechte Merz und der progressiv-linke Starmer kommen zwar aus unterschiedlichen politischen Lagern, das Verhältnis der beiden sei aber „exzellent“, heißt es in Diplomatenkreisen. Gemeinsam mit Macron reisten beide im Mai im selben Zug in die Ukraine.
„Es ist überfällig, dass wir einen solchen Vertrag miteinander abschließen“, sagte Merz nach der Unterzeichnung im Museum. Bereits Merz’ Vorgänger Olaf Scholz (SPD) hatte darauf gedrungen, die Beziehung war allerdings mit Starmers Tory-Vorgängern oft schwierig. Seit Starmers Besuch bei Scholz in Berlin im vergangenen Jahr wurde dann konkret am Vertrag gearbeitet, weshalb Merz am Donnerstag auch „ausdrücklich der Vorgängerregierung danken“ wollte. Dass Merz das Grundgerüst des Vertrages übernommen und an einzelnen Stellen erweitert hat, wurde in London positiv registriert.
Beim Thema Migration wurde bestätigt, was schon Ende vergangenen Jahres in London vereinbart worden war: Dass Deutschland seine Gesetzgebung so verändert, damit Betreiber von Lagerhallen belangt werden können, in denen Schleuser ihre Schlauchboote für die Fahrten von Flüchtlingen über den Ärmelkanal lagern. Gemeinsam wollen beide Länder auch am Vorhaben festhalten, Langstreckenwaffen zu entwickeln, zudem sichern sich beide einander militärischen Beistand zu, sollte eines der beiden Länder angegriffen werden. Die Zusage ergänzt die Beistandspflicht aus Artikel fünf des Nato-Vertrags.
Zwischen der Unterschrift im Museum und dem Besuch des Airbus-Werkes sprachen Merz und Starmer in Downing Street auch über Themen wie die Situation in Gaza. Beide erneuerten ihre Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand und humanitärer Hilfe. Auch über die Lage in der Ukraine und die Rolle der USA wurde gesprochen: „Wir haben die Verabredung getroffen, dass wir der Ukraine neue Waffensysteme liefern, und dass diese Systeme durch die USA für Europa ersetzt werden“, sagte Merz, auch Trump habe zugesagt. Dies „erhöht den Druck auf Putin, endlich über Frieden zu verhandeln“.
Gerade seitdem in Washington Donald Trump regiert, hat sich die Zusammenarbeit in Verteidigung und Sicherheit in Europa intensiviert. „Wir als E3 rücken eng zusammen“, so formulierte es Merz, und meinte damit Frankreich, Deutschland und das Vereinigte Königreich. „Partnership with purpose“, so nannte Starmer am Tag der neuen Einheit das Bündnis: eine Partnerschaft mit Sinn.