Es klingt wie ein makabrer Treppenwitz: Während in Berliner Kliniken die Dächer undicht sind, die Keller bei Starkregen volllaufen und ganze Stationen unter Personalmangel ächzen, arbeitet der Senat gemeinsam mit der Bundeswehr an einem „Rahmenplan Zivile Verteidigung Krankenhäuser“. Das Ziel ist Kriegstüchtigkeit. Im Falle eines Nato-Bündnisfalls soll die deutsche Hauptstadt binnen weniger Tage zur Drehscheibe für Material, Personal und vor allem für Verwundete aus den Kampfgebieten an der Ostflanke werden.
Alexander King vom BSW, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, hat dazu eine Reihe schriftlicher Anfragen an den Berliner Senat gestellt. Die der Berliner Zeitung exklusiv vorliegenden Antworten zeichnen ein widersprüchliches Bild: zwischen Nato-Resilienz-Zielen, geheim gehaltenen Plänen und einem Senat, der sich mal zuständig erklärt, mal auf den Bund verweist. Und mittendrin die Berliner Krankenhäuser – chronisch unterfinanziert, aber künftig auf Kriegslogik getrimmt.
„100 Verwundete pro Tag“
Den Ausgangspunkt dafür bildet der Nato-Gipfel 2023 in Riga. Dort wurden sogenannte Resilienz-Ziele verabschiedet. Die zivile Infrastruktur soll demnach kriegstauglich gemacht werden – von den Medien über den Verkehr bis hin zum Gesundheitswesen. Anknüpfend daran präsentierte Berlins Gesundheitssenatorin Ina Czyborra im Juli dieses Jahres zusammen mit der Krankenhausgesellschaft den Rahmenplan „Zivile Verteidigung Krankenhäuser“. Berlin solle im Ernstfall, so Czyborra, zur logistischen Drehscheibe Richtung Osten werden.
Bei einer Übung der Bundeswehr in der Franz-Josef-Strauß-Kaserne am Bundeswehrstandort Altenstadt bei Schongau in Bayern versorgen Soldaten einen anderen Soldaten.Angelika Warmuth/epd
Kritiker wie Alexander King warnen jedoch, dass hier ein Militarisierungsprogramm über die Hintertür eingeführt wird: Was als Krisenvorsorge etikettiert wird, sei faktisch die Umrüstung ganzer Gesellschaftsbereiche auf Kriegslogik. Anstatt in eine bessere Versorgung, Prävention oder Personal zu investieren, würden Milliarden gebunden, um das Gesundheitswesen kriegstüchtig zu machen.
„Nato, Bundesregierung, Bundeswehr und Senat wollen unsere zivile Infrastruktur kriegstüchtig machen“, sagt der BSW-Abgeordnete der Berliner Zeitung. „Trotzdem erweckt der Senat den Anschein, er habe nichts mit der Umsetzung der Resilienzziele zu tun. Das kann eigentlich nur heißen, dass er nicht die ganze Wahrheit sagt oder die Zusammenhänge nicht sehen will.“
Die Antworten des Senats sind zum Teil erstaunlich offen. So heißt es beispielsweise, die Nato rechne im Bündnisfall bundesweit mit „mehr als 1000 Verletzten pro Tag“. Insgesamt seien zehn „Patientenübergabepunkte“ in Deutschland vorgesehen, für Berlin ergäben sich demnach „bis zu 100 Verwundete pro Tag“. Diese sollen in den hiesigen Kliniken versorgt werden – zusätzlich zu den ohnehin schon hohen Patientenzahlen. Schon heute fehlen in Berlin tausende Pflegekräfte und Ärzte. Jede zusätzliche Welle von Verletzten würde das System vermutlich kollabieren lassen – erst recht, wenn es sich um schwer Verwundete aus Kriegseinsätzen handelt, die Intensivbetten, OP-Kapazitäten und hochspezialisierte Teams binden würden.
Welche Berechnungen der Verletztenzahl zugrunde liegen, die der Senat in seiner Antwort an King nennt, ist unklar. Welche Kapazitäten Berlin überhaupt hat, ist ebenfalls nicht bekannt. Konkrete Vorgaben für bauliche Maßnahmen enthält der Rahmenplan nicht. Er wird stattdessen als „fortzuentwickelndes Arbeitspapier“ beschrieben.
Sanierungsstau? Keine Zahlen
Besonders pikant: Auf Kings Frage nach dem Sanierungsstau in den Berliner Kliniken kann der Senat keine Zahlen nennen. Konkrete Bedarfe seien nicht bekannt und die Verantwortung liege bei den Häusern selbst. Gleichzeitig hat die Landesregierung die Investitionszuschüsse zuletzt gesenkt.
Während also Milliarden in militärische Aufrüstung und Sondervermögen fließen, gibt derselbe Staat an, den Sanierungsbedarf seiner Kliniken nicht zu kennen.
Dabei fordern die Krankenhausgesellschaften seit Jahren Milliardenbeträge für dringend nötige Investitionen – vom Brandschutz über Isolierstationen bis hin zu funktionsfähigen OP-Sälen und mehr Personal. Auch King betont: „Wir brauchen dringend Investitionen in die Krankenhäuser – zivile Investitionen, die sich am aktuellen Bedarf der Berliner Patienten orientieren und nicht an kriegerischen Planspielen.“
Die Berliner Krankenhäuser leiden seit Jahren unter Personalmangel und Unterfinanzierung.Georgyi Datsenko/imago
Zur Rolle der Bundeswehr bleiben die Antworten des Berliner Senats vage. Zwar tagt seit 2023 eine Arbeitsgruppe „Zivile Verteidigung Krankenhäuser“, in der auch Vertreter der Bundeswehr sitzen. Auf die Frage, ob die Armee künftig im Beschaffungswesen oder bei Sanierungsentscheidungen mitreden wird, verweist der Senat jedoch auf fehlende Zuständigkeit. Der Rahmenplan selbst bleibt Verschlusssache – weder die Öffentlichkeit noch die Abgeordneten erhalten Einsicht.
King nennt das „skandalös“: „Wenn es stimmt, dass die Umsetzung nicht in der Verantwortung der Landesbehörden liegt, dann liegt zumindest nahe, dass die Bundeswehr beispielsweise in das Beschaffungswesen und vielleicht auch in die Priorisierung von Sanierungsmaßnahmen hineinregiert.“
Berlin als Nato-Drehscheibe
Die geopolitische Dimension ist besonders brisant. Dem Rahmenplan zufolge soll Berlin im Ernstfall „zur Drehscheibe für Material und Personal in die Kampfgebiete an der Ostflanke“ werden. Eine Formulierung, die den Ernstfall nicht mehr als fernes Gedankenspiel erscheinen lässt. Damit würde die Hauptstadt zur logistischen Schaltstelle eines potenziellen Krieges mit Russland werden – mit allen Konsequenzen für die Sicherheit der Stadt und ihrer Bevölkerung.
Die Pläne, Berlin zur Nato-Drehscheibe zu machen, stehen im scharfen Kontrast zur Wirklichkeit der maroden Infrastruktur. King verweist auf einsturzgefährdete Autobahnbrücken und kaputte Bahnstrecken. „Wie sollen Panzer und Nachschub durch eine Stadt rollen, deren Brücken dem zivilen Verkehr schon nicht gewachsen sind?“ Bei Fragen zu Sanierungsprogrammen und Finanzierung verweist der Senat lapidar auf den Bund. Damit zeigt sich die Schieflage der Zeitenwende. Für die Kriegslogistik wird geplant, gerechnet und getagt, während für funktionierende Krankenhäuser, sichere Brücken und intakte Schienennetze das Geld fehlt.
Die Kriegsertüchtigung der Berliner Krankenhäuser ist ein weiteres Kapitel der „Zeitenwende“: die Militarisierung der zivilen Bereiche. Während die Bundesregierung die Rüstungsausgaben erhöht, geraten soziale und medizinische Investitionen ins Hintertreffen. King bringt es auf den Punkt: „Das Ganze ist einerseits lachhaft, andererseits blutiger Ernst.“
Die angebliche Vorsorge für den Ernstfall bedeutet faktisch die Vernachlässigung des Alltags. Die Politik investiert lieber in Szenarien eines künftigen Krieges, anstatt dafür zu sorgen, dass Patienten nicht stundenlang auf eine Notfallversorgung warten müssen.
Zeitenwende in den Kliniken
Die Antworten des Senats auf Kings Anfragen sind alles andere als beruhigend. Einerseits bestätigt sich, dass Berlin in Nato-Kriegsplanungen eingebunden ist, einschließlich der Verwundetenzahlen, der Logistik und der Mitarbeit der Bundeswehr. Andererseits bleiben Fragen offen: Wie sollen marode Kliniken dafür ertüchtigt werden, wer trägt die Kosten und welche Rolle übernimmt die Bundeswehr tatsächlich?