Vor 50 Jahren hat das Schicksal dem Esslinger Udo Klinner ein zweites Leben geschenkt. Die Erinnerung an einen Flugzeugabsturz von 1975 lässt ihn nicht los.
Wenn Udo Klinner auf sein bisheriges Leben zurückblickt, ist da viel Positives: Er hat eine wunderbare Familie, war erfolgreich im Beruf, er hat den Esslinger Jazzkeller mit gegründet, und er hat sich als Musikkritiker einen Namen gemacht. Doch da ist auch jener vermaledeite 1. September 1975, der den heute 85-Jährigen fast das Leben gekostet hätte. Die schrecklichen Ereignisse lassen Klinner bis heute nicht los. Damals war eine Chartermaschine der DDR-Gesellschaft Interflug kurz vor der Landung in Leipzig-Schkeuditz im dichten Nebel gegen einen Antennenmast geprallt und abgestürzt. 27 Menschen fanden den Tod, sieben überlebten wie durch ein Wunder. Einer von ihnen war Udo Klinner. Wenn er am 50. Jahrestag an die Flugzeugkatastrophe denkt, kann er es noch immer kaum fassen, dass er damals dem Tod entronnen ist.
Es fällt ihm immer noch schwer, an die damaligen Ereignisse zurückzudenken. Und es wäre ihm am liebsten, die Erinnerung an den Flugzeugabsturz von Schkeuditz, der zu den großen Katastrophen der DDR-Geschichte gehört, einfach hinter sich lassen und einen Schlussstrich ziehen zu können. Doch dafür ist das, was an jenem 1. September 1975 geschehen ist, viel zu prägend für Klinners Leben und für das seiner Familie.
Kurz vor 7 Uhr war die Maschine vom Typ Tupolew 134 damals in Stuttgart gestartet. An Bord waren sechs Besatzungsmitglieder und 28 Passagiere – Kaufleute aus ganz Süddeutschland auf dem Weg zur Leipziger Messe. Unter ihnen waren der Daimler-Mitarbeiter Udo Klinner und einer seiner Kollegen, die es zu schätzen wussten, bequem per Charterflug über den eisernen Vorhang hinweg in die Messestadt reisen zu können.
An die erste Zeit an Bord konnte sich Udo Klinner noch Jahre später sehr genau erinnern. „Den Geruch in der Kabine habe ich immer noch in der Nase“, hat er vor Jahren erzählt, um mit dem ihm eigenen augenzwinkernden Humor zu bemerken: „So hat man sich den viel zitierten sozialistischen Mief vorgestellt.“
Der Esslinger weiß auch noch ganz genau, dass sich das ostdeutsche Bordpersonal freundlichst um die westdeutschen Fluggäste bemüht hat. Der Absturz selbst blieb jedoch nicht in seinem Gedächtnis haften: „Vieles, was ich in meinem Beruf erlebt habe, ist mir noch immer sehr präsent – vom Absturz selbst weiß ich gar nichts mehr.“
Ein Traktorist rettet den Esslinger
Erst viel später, nachdem er drei Wochen lang mit eingedrücktem Brustkorb und Milzriss im Koma gelegen hatte, ehe er sich mühselig ins Leben zurückkämpfen musste, hat der Esslinger erfahren, was damals geschehen war. Klinner war beim Aufprall aus dem brennenden Flugzeugwrack geschleudert worden und hatte als einer der wenigen Insassen schwerstverletzt überlebt. Und er hatte Glück im Unglück: Mitarbeiter eines benachbarten landwirtschaftlichen Betriebs hatten die Katastrophe bemerkt – der Traktorist Paul Leskowitz war einer der ersten am Unfallort, fasste sich ein Herz und brachte den Esslinger in Sicherheit. „Ohne Paul hätte ich das Unglück nicht überlebt“, weiß Klinner. Der Kontakt zu seinem damaligen Lebensretter ist geblieben.
„Was geschehen ist, ist geschehen“
Im Leipziger Klinikum St. Georg wurde Klinner zurück ins Leben geholt. „Meine Frau Theresia war neun Wochen lang bei mir am Krankenbett, meine Kinder lebten zuhause in Esslingen zwischen Hoffen und Bangen“, erinnert er sich. „Am schlimmsten ist es für mich bis heute, zu wissen, was meine Familie damals alles durchgemacht hat.“ Ein Jahr dauerte die Reha, erst nach 15 qualvollen Monaten war an Arbeit wieder zu denken. Doch Udo Klinners Leben war nie mehr dasselbe: „Was geschehen ist, ist geschehen“, hat er seither mehr als einmal gesagt. „Ich und viele andere müssen damit leben.“ Und er ist froh, dass er nicht mehr ständig an die damaligen Ereignisse denken muss.
Den Rettungskräften bot sich damals ein Bild des Schreckens. Foto: privat
Weil solche Unglücksfälle nicht ins blank geputzte Bild einer Arbeiter- und Bauern-Republik passten, wurden viele Hintergründe der Katastrophe von der Staatsmacht der DDR unter Verschluss gehalten. Erst nach der Wende wurden die Akten öffentlich. Udo Klinner wird alle zehn Jahre von Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendern angefragt, die ihn als Zeitzeugen zu einer der schlimmsten Katastrophen der DDR-Geschichte interviewen wollen. Diesmal hat der Esslinger alle Anfragen abgelehnt – bis auf die seiner Heimatzeitung, der er seit vielen Jahren verbunden ist. „Auch wenn ich überlebt habe, bin ich jedes Mal froh, wenn ein Jahrestag des Unglücks vorüber ist“, hat er schon vor Jahren verraten. „Aber ich kann verstehen, dass die damaligen Ereignisse viele Menschen bis heute beschäftigen.“
Das Schicksal schenkt ein zweites Leben
Udo Klinner wird am 1. September zum Telefonhörer greifen und Roberto Valdemarca in Italien anrufen, der damals mit ihm in der Unglücksmaschine saß, im Klinikum St. Georg ebenfalls ums Überleben kämpfte und der inzwischen zu einem Freund fürs Leben geworden ist. „Er kann nachfühlen, was dieser Tag für mich bedeutet, und er wird mir wie immer den guten Rat geben, dass ich die Dinge lieber ruhen lassen soll. Und dann wird er elegant das Thema wechseln und über den VfB Stuttgart oder irgendein anderes belangloseres Thema sprechen“, ahnt Klinner. Aber insgeheim werden beide dann doch ihrem Schicksal danken, das sie auf wunderbare Weise überleben ließ. Denn an diesem vermaledeiten Tag hat ihnen das Schicksal ein zweites Leben geschenkt.
Die Katastrophe von Schkeuditz
Das Unglück
Nebel hatte am 1. September 1975 die Sicht am Flughafen Leipzig-Schkeuditz massiv behindert, die technischen Möglichkeiten der Flugsicherung waren begrenzt. Beim Landeanflug streifte die Tupolew 134 der Gesellschaft Interflug einen Antennenmast. Einige hundert Meter von der Landebahn entfernt hat sich die Maschine überschlagen, ist in drei Teile zerbrochen und kam auf einer Mülldeponie zu liegen. Rumpf und Cockpit fingen sofort Feuer.
Die Retter
Die Flughafenfeuerwehr kam erst verspätet am Unglücksort an, weil man im dichten Nebel das Flugzeug nicht finden konnte. „Schuld am verspäteten Eintreffen trug unter anderem der diensthabende Fluglotse im Tower, der sich nicht an das vereinbarte Codewort erinnern konnte, um einen Einsatz der Feuerwehr auszulösen“, hieß es später in einer Dokumentation. „Die alarmierten Löschfahrzeuge kamen zunächst am Flughafenzaun nicht weiter, denn die Tore waren verschlossen.“