Cover: Ferdinand von Schirach, "Der stille Freund"

AUDIO: Neue Bücher: „Der stille Freund“ von Ferdinand von Schirach (5 Min)

Stand: 01.09.2025 13:37 Uhr

Ferdinand von Schirach erzählt in „Der stille Freund“ nüchtern und eindringlich von Moral, Schuld und Sinnfragen. Seine Geschichten berühren tief, zeigen Ungerechtigkeiten und das rätselhafte Wesen des Lebens ohne einfache Antworten.

von Katrin Krämer, RB

Ferdinand von Schirach erzählt seine Geschichten so nüchtern, dass sie schon wieder ans Eingemachte gehen. Es geht um Menschen, Moral und moralrechtliche Fragen. Um Schuld, mögliche Hirngespinste und um – vielleicht – tatsächlich selbst Erlebtes. Der Ich-Erzähler lässt jedenfalls vermuten, dass sich dieser Fall so zugetragen haben könnte:

Ich war 14 Jahre Anwalt in Berlin, als mich Philipp, der Sohn Tonys, an einem Winternachmittag in der Kanzlei aufsuchte. Er hatte sich unter dem Namen Philipp Stahnske im Sekretariat angemeldet, und vermutlich erkannte ich ihn auch deshalb nicht gleich. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er 15 oder 16 Jahre alt gewesen. Jetzt war er 30, ein kleiner, etwas dicklicher und früh gealterter Mann mit Scheitel, randloser Brille, Anzug und Krawatte.

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Philipp, Sohn aus adeligem Hause, will den Tod seiner Mutter Tony aufklären. Als Kind schon passte er nicht ins Leben dieser abenteuerlustigen Frau, die um die Welt reiste und flippige Partys feierte. Sie verachtete ihren Sohn, weil er den Weg einer bürgerlichen Existenz ihrem Hippie-Dasein vorzog. Und er verachtete sie wegen ihrer ständigen Affären. Als Tony auf einer Reise von einem Kreuzfahrtschiff verschwindet, verdächtigt Philipp ihren aktuellen Liebhaber, sie über Bord geworfen zu haben. Der Anwalt und Erzähler stößt bei seinen Nachforschungen allerdings auf eine andere Spur…

Buch-Cover: Ferdinand von Schirach - Regen

Mit seiner Erzählung setzt Ferdinand von Schirach auf knapp 50 Seiten seine Beschäftigung mit existenziellen Fragen fort.

Existenzielle Fragen und die Suche nach Gerechtigkeit

Von Schirachs Erzählungen sind emotionale Einschläge, gerade, weil sie so schnörkellos und unpathetisch daherkommen. Wie im Kapitel „Unfälle“, in dem ein Sohn von seinem kalten, rücksichtslosen Vater berichtet, der einmal empathisch handeln und einen Mann aus größter Gefahr retten will. Und ausgerechnet dabei sein Leben verliert. Ist das gerecht? Lässt sich aus diesem Vorfall etwas ableiten? Nicht nur in dieser Geschichte lautet Ferdinand von Schirachs Antwort auf die großen Fragen nach der Sinnhaftigkeit des Handelns und des Seins:

Alle Fragen nach einem Sinn sind Kinderfragen. Niemand weiß, warum das eine Leben glückt und das andere nicht. Es gibt keine Regeln, es gab sie noch nie.

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In der der titelgebenden Erzählung „Der stille Freund“ erinnert sich von Schirach an Massimo, den belesenen Freund aus Schulzeiten im Jesuiten-Internat. Nachdem er weder bei Kant noch bei Platon finden konnte, was er suchte, erleuchtete ihn – jenseits aller philosophischen Maximen – diese eine existenzielle Erkenntnis:

Und dann, ganz plötzlich, wurde ihm klar, dass nur das Lebendige wahr ist, nur das Staunen, nur die Schönheit unserer Welt, dieser eine Moment. Er ging in ein Café, bestellte ein Cornetto, biss hinein und konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Massimo nannte diesen Moment später seinen „stillen Freund“, zu dem er immer wieder zurückkehren konnte. Das verstand ich sehr gut.

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Ferdinand von Schirach trifft unseren Lesenerv

Was Ferdinand von Schirachs eigener „stiller Freund“ ist, offenbart er uns auch: ein flüchtiger, sehr intimer Madeleine-Moment à la Marcel Proust. Eine überaus zarte, sinnliche, poetische und tröstliche Erinnerung, die er da mit uns teilt. Sollte es in uns so etwas wie einen Lesenerv geben, dann trifft von Schirach den zielgenau. Diese empfindliche Stelle ziept und zwickt, weil Ferdinand von Schirach genau dorthin schreibt, wo es weh tun kann. Weil er mit seiner Sprache, die so direkt wie schwebend ist, grundsätzliche Fragen berührt. Und von denen Fundamentales haften bleibt.

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