Sie arbeiten hart an ihrem Annäherungsprozess, sogar spätabends noch an einem dunklen kleinen Grenzbahnhof in Polen. Jens Spahn und Matthias Miersch müssen ein paar Minuten warten am Bahnhof in Przemyśl, bis ihr Sonderzug nach Kiew bereitsteht. Der Unions-Fraktionschef Spahn betont, dass er doch auch stets das Soziale im Blick habe. „Wir arbeiten daran“, meint sein SPD-Pendant Miersch skeptisch zu Spahns sozialem Gewissen. Der sagt, natürlich habe er ein Herz für alle, die wirklich Hilfe brauchen, dazu zähle aber nicht der 28-Jährige, der arbeiten kann. Miersch kontert, mancher Fall sei eben etwas komplexer, er warnt vor Pauschalurteilen.
Zwischenfazit: Hier sind sie noch weit auseinander. Die SPD wird sich ziemlich wehren, wenn die Union starke Einschnitte in das System will, während Spahn und Kanzler Friedrich Merz (CDU) finden, es brauche jetzt eine große Sozialstaatsreform, man habe viel zu lange über die Verhältnisse gelebt. Aber nur wenn sie als Verantwortliche für die Mehrheiten im Bundestag eine gemeinsame Ebene finden, wenn sie vertraulich möglicherweise schmerzhafte Kompromisse ausloten, nur dann kann es etwas werden mit dieser Koalition.
Spahn murmelt auf dem Weg zum Zug noch, es sei wichtig, jetzt das neue Leitmotto zu leben: „Deutschland voranbringen“. Er mag nicht immer nur hören, was zu komplex sei und nicht gehe. Miersch steigt in Waggon drei ein, Spahn in Waggon eins, die übrigen Reisebegleiter bitte in Waggon zwei.
Die Idee ging von Miersch aus, dann kam einiges dazwischen
Diese Reise eines ungleichen Tandems, das hier Teambuilding auch in eigener Sache betreibt, ist eine ungewöhnliche. Laut Spahn ging die Idee zuerst von Miersch aus, sie machten sie dann alsbald zur gemeinsamen. Die beiden Fraktionsvorsitzenden der schwarz-roten Koalition fahren zusammen in das Kriegsgebiet der Ukraine. Es ist auch ein Signal an die eigene Koalition. Schon im Mai war die Idee entstanden. Dann kam einiges dazwischen, etwa dass Spahn die SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf, nicht in seiner Fraktion durchsetzen konnte.
Noch nie haben Miersch und Spahn so viel Zeit miteinander verbracht wie seit Mittwoch. Erst ein Essen und ein abendlicher Umtrunk in Würzburg, dann zwei Tage eine gemeinsame Klausurtagung dort, nun von Sonntagabend bis Dienstag die Reise in die Ukraine. Kanzler Merz ließ noch im ZDF-Sommerinterview wissen, die Suche nach einer neuen Kandidatin für Karlsruhe sei eine Sache der beiden Fraktionsvorsitzenden, „die sich am Wochenende dazu auch nochmal konkret verabredet haben“. Zu später Stunde ziehen sich Spahn und Miersch zu einer Unterredung im Zug zurück, aber von all den Baustellen ist das fast die kleinere. Miersch will, dass das Thema Verfassungsrichterwahl noch im September gelöst wird.
Zuvor haben sie unmittelbar erfahren, wie nah die Bedrohung ist. Es ging wie üblich bei diesen Politikerreisen – in der Vorwoche war erst Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) zu Gast in der Ukraine – per Flug in das südostpolnische Rzeszów. Schon im Anflug sind viele Patriot-Startgeräte zu sehen, kein Flughafen an der Nato-Ostflanke wird so geschützt. Es ist der Umschlagplatz für die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine. 180 Bundeswehr-Soldaten sind hier stationiert. Die Kommandeurin zeigt auf einem Aussichtsposten das Areal, 24 Stunden am Tag sind hier Bundeswehrsoldaten im Einsatz, um mit den zwei stationierten Patriot-Systemen den Luftraum Polens im Grenzgebiet zur Ukraine abzusichern – die Grenze ist nur 60 Kilometer Luftlinie entfernt.
Zu beobachten sind zwei Politiker, die ihre Rolle suchen
Alles hat hier seine deutsche Ordnung, jeden Tag um zwölf Uhr wird der gelbe Feldpost-Briefkasten geleert. Der Einsatz ist vorerst bis Jahresende geplant, dann sollen niederländische Einheiten übernehmen. Deutschland will schrittweise weitere Patriot-Systeme an die Ukraine abgeben, obwohl in der Bundeswehr gewarnt wird, man habe selbst inzwischen viel zu wenige. Allerdings sollen 2026 erste Ersatzbeschaffungen aus den USA kommen.
Es herrschen strenge Sicherheitsauflagen. Polen hat gerade erst Gesetze verschärft, auch was Strafen für das Fotografieren kritischer Infrastruktur betrifft. Anschließend geht es zum Bratwurstessen mit den Soldaten, die Abendsonne schimmert durch das Tarnnetz über ihnen. Beide tragen sich noch in das Goldene Buch ein: „Vielen Dank für Ihren wichtigen Einsatz!“, schreibt Spahn, und Miersch ergänzt: „Und alles Gute in diesen schwierigen Zeiten!“ Danach geht es per Auto nach Przemyśl, zum Sonderzug nach Kiew.
Zu beobachten sind zwei Politiker, die ihre Rolle suchen. Spahn will weg von den Startproblemen im neuen Amt und den Vorwürfen wegen der teuren Maskenbeschaffung als Bundesgesundheitsminister. Da ist aber längst nicht alles ausgestanden, und auch in der SPD liebäugeln einige mit einem Untersuchungsausschuss. Miersch muss irgendwie seinen Laden zusammenhalten, wo viele diese Koalition nie wollten. Und er will seine 120 Abgeordneten einschwören auf einen Kurs, der keinen Zweifel lässt an der weiteren Unterstützung der Ukraine.
Und dann kommt der Besuch in Butscha
„Wir sehen, dass Putin austestet, wie weit er gehen kann“, sagt Spahn. „Ich glaube, er testet insbesondere auch Deutschland aus, wie weit Deutschland bereit ist, Unterstützer zu bleiben.“ Beide Politiker loben zwar die diplomatische Initiative von US-Präsident Donald Trump, allerdings ist kein Einlenken beim russischen Präsidenten Wladimir Putin zu erkennen, unvermindert gehen die Luftangriffe weiter. Es gibt auch an diesem Tag Luftalarm in Kiew. „Es ist Putin, der Krieg will, der keinen Frieden will“, meint Spahn und spricht jene in Deutschland an, „die immer sagten, es bräuchte mehr Diplomatie“. Und deswegen brauche es jetzt umso mehr Unterstützung, um eines zu verdeutlichen: „Wenn Putin nicht bereit ist, sich an einen Verhandlungstisch zu setzen, einer Waffenruhe zuzustimmen, dann werden wir die Ukraine weiter mit allem Notwendigen unterstützen.“
Lässt sich Putin davon beeindrucken? Der sagt beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in China, es bilde sich eine neue Weltordnung, die sich nicht mehr an Europa und den USA ausrichte. Und so rückt eines der letzten großen Druckmittel in den Fokus. Laut EU-Kommission sind rund 210 Milliarden Euro der russischen Zentralbank in der EU eingefroren, wobei der Großteil von dem in Brüssel ansässigen Finanzinstitut Euroclear verwahrt wird. Miersch wie Spahn können sich einen Nutzen für dieses Vermögen vorstellen. „Alle Optionen liegen auf dem Tisch“, sagt Miersch.
Und dann kommt der Besuch in Butscha, wo im Frühjahr 2022 nach 33 Tagen russischer Besatzung über 450 Leichen gefunden wurden. Die beiden Politiker wirken mitgenommen danach. Sie stehen auf einer Wiese hinter der St.-Andreas-Kirche, wo damals die Toten in schwarzen Säcken in Massengräbern bestattet wurden, heute erinnert ein Mahnmal mit den Namen an die Gräuel. „In Russland wurden sie mit Orden dafür geehrt, dass sie hier getötet haben“, sagt Bürgermeister Anatolii Fedoruk.
Drinnen in der strahlend weißen orthodoxen Kirche ist der Ort des Glaubens einem Ort des Grauens gewichen. Es sind Bilder von damals ausgestellt, Menschen, die auf dem Fahrrad erschossen wurden und tot auf der Straße lagen. Miersch hat vorher schon gesagt, es sei etwas anderes, an diesem Ort zu sein, als nur darüber zu lesen. Für beide ist es die erste Reise in die Ukraine.
Außenpolitik und Innenpolitik hängen eng zusammen. Nächste Woche wird im Parlament der Bundeshaushalt 2026 beraten. Beide wehren sich dagegen, bestimmte Kosten – etwa für den Sozialstaat und die Ukrainehilfe – gegeneinander aufzuwiegen. Aber die Debatte ist natürlich da, zumal wenn im Sozialbereich einiges gekürzt werden soll. Deutschland hat die Ukraine seit dem Beginn des Krieges 2022 mit rund 50,5 Milliarden Euro unterstützt. 25 Milliarden entfielen auf Kosten für geflüchtete Menschen, 17 Milliarden auf die militärische Unterstützung. Nach dem weitgehenden Ausfall der US-Unterstützung soll die militärische Hilfe aus Deutschland noch leicht steigen. Für das laufende Jahr sind 8,3 Milliarden geplant, für 2026 und 2027 jeweils 8,5 Milliarden Euro.
„Da fährt es gen Osten, unser sauber erarbeitetes Steuergeld“
Neue Flüchtlinge aus der Ukraine sollen demnächst kein Bürgergeld mehr bekommen, sondern nach dem Asylbewerberleistungsgesetz unterstützt werden. Die Stimmung daheim wird schwieriger, das zeigen etwa Kommentare in sozialen Medien zu der Reise. „Da fährt es gen Osten, unser sauber erarbeitetes Steuergeld“, oder: „sie sollen sich um Deutschland kümmern und keine Butterfahrten in die Ukraine machen“, so lauten zwei der freundlicheren Kommentare.
In der Ukraine jedenfalls ist man dankbar für den Besuch, denn es sind diese Parlamentarier, die die Mehrheiten sichern müssen. Auch ein Treffen mit Staatspräsident Wolodimir Selenskij soll es geben, zudem war es Spahn und Miersch sehr wichtig, die Vorsitzende des Antikorruptionsausschusses, Anastasiia Radina, zu treffen. Sie nehmen Erfahrungen mit. Es wird sich zeigen, wie weit das daheim in Berlin trägt. Miersch jedenfalls meint: „Ich halte es für ganz entscheidend, dass es ein gemeinsames Signal ist.“