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„Hell is Us“ ausprobiert: Rebellion gegen klassische Open-World-Formeln
Bereits im Gespräch auf der diesjährigen Gamescom schilderte uns Designer Simon Girard, dass „Hell is Us“ ein Spiel für Erwachsene sei, die selbstständig denken möchten. Nach mehr als zwölf Stunden im Spiel können wir das nun bestätigen. Das Entwicklerstudio Rogue Factor liefert ein offenes Action-Adventure, das sich irgendwo zwischen düsterer Sci-Fi-Dystopie, Kriegsdrama, Survival-Horror und klassischem Zelda-Abenteuer bewegt. Es ist ein außergewöhnliches Spiel, das mental und spielerisch fordert und deshalb nicht jedem gefallen wird.
Ein Spiel für Erwachsene
„Hell is Us“ beginnt mit einem Verhör. Protagonist Rémi sitzt angekettet an einem Tisch, sein Gesicht gezeichnet von ruppiger Gesprächsführung. Ein mysteriöser Hutträger mit Zigarette und überzeichnetem Doppelkinn spritzt ihm ein Wahrheitsserum, woraufhin Rémi widerwillig seine Geschichte erzählt – oder besser: unsere Geschichte, denn seine Erzählung wird schon bald zum Spielgeschehen. Die Vorgeschichte: Als Kind wurde Rémi aus einem fiktiven Land namens Hadea geschmuggelt, das sich in einem brutalen Bürgerkrieg befindet. Jahre später kehrt er als „Peacekeeper“ – die „Hell is Us“-Version der UN-Blauhelme – zurück, um Antworten zu finden. Seine einzige Erinnerung ist, dass sein Vater Schmied im Dorf Jova war. In Hadea angekommen, legt er seine Uniform ab und macht sich auf eigene Faust auf die Suche. Schnell wird klar, dass Hadea nicht nur unter den Schrecken des Krieges leidet, sondern auch von übernatürlichen Wesen, den „Hollow Walkern“, heimgesucht wird.
Rémi erzählt während eines Verhörs die Geschichte, die Spieler in „Hell is Us“ erleben.
(Bild: Nacon / Screenshot: joe)
Wie Girard schon im Vorgespräch schilderte, gibt es in „Hell is Us“ drei narrative Ebenen: Rémis persönliche Geschichte, die Schrecken des Krieges und das geheimnisvolle „Calamaty“-Phänomen. In den Anfangsstunden beeindruckt vor allem die Umsetzung des Bürgerkriegsszenarios. Die von religiösem Fanatismus und blindem Fortschrittswillen befeuerte Auseinandersetzung strotzt nur so vor emotionaler Aufladung und Populismus. Menschen werden gegeneinander ausgespielt, kennen nur noch ein Dafür oder ein Dagegen und tun sich in ihrer blinden Wut fürchterliche Dinge an. „Palomisten“ und „Sabiner“, einst Nachbarn, Brüder und Schwestern, schlachten sich gegenseitig ab, vertreiben sich aus ihrer gemeinsamen Heimat und machen auch vor Kindern nicht halt.
Auf dem Weg ins Dorf Jova zermürbt der Anblick eines Massengrabes. An dessen Rand betrauert ein gebrochener Mann seine Frau und sein Kind. An einem alten Baum auf einem Hügel wehen die leblosen Körper ungewollter Bewohner im Wind. In ihrem heruntergekommenen Haus erzählt eine Frau Rémi, wie die Soldaten sie jede Nacht dafür bestrafen, dass sie sich an einem Lynchmob beteiligt hat. Was dieses Spiel abseits der Hauptstory erzählt, ist schwer auszuhalten. Gleichzeitig ist es ein spielbares Mahnmal an die Schrecken des Krieges, wie es in diesem Medium selten zu finden ist. Rémi begegnet immer wieder Flüchtlingen, die seine Hilfe benötigen. Auf eine Seite schlägt er sich jedoch nicht. „Hell is Us“ zieht Spieler nicht in das Kriegsgeschehen hinein. Sie bleiben Beobachter, erfüllen „gute Taten“ in Form von Nebenaufgaben, beteiligen sich aber nie aktiv an Kämpfen oder dem zugrundeliegenden Konflikt.
Der Krieg in „Hell is Us“ schreibt viele kleine Geschichten, die nur schwer auszuhalten sind.
(Bild: Nacon / Screenshot: joe)
Nicht zu einfach, aber auch kein Soulslike
Gekämpft wird ausschließlich gegen die übernatürlichen „Hollow Walkers“ – und so viel sei vorweggenommen: „Hell is Us“ ist kein Soulslike. Die Kämpfe können durchaus fordernd sein, werden aber nie unfair und können auch von weniger kampferprobten Spielern gemeistert werden. Zudem gibt es verschiedene Einstellungsmöglichkeiten, um den Schwierigkeitsgrad anzupassen, und nicht jedes Monster muss bekämpft werden. Auch die Speicherpunkte sind fair gesetzt. Im Falle des Scheiterns kehrt die Spielfigur zwar an den zuletzt aktivierten Speicherpunkt zurück, der bis zum Bildschirmtod erreichte Fortschritt bleibt jedoch erhalten.
Im Laufe des Spiels findet Rémi verschiedene mystische Schwerter, Äxte, Hellebarden oder Lanzen, die aus einem besonderen Material geschmiedet sind. Sie lassen sich mit Wut, Ekstase oder Gram aufladen – Emotionen werden also zur Waffe. Die Nahkampfwaffen unterscheiden sich in ihren Eigenschaften, fühlen sich unterschiedlich an und leveln auf, wenn sie zum Einsatz kommen. Wer gut aufpasst, kann die Angriffsmuster der „Hollow Walker“ schnell durchschauen und sie blocken, parieren oder mit einem Sprung ausweichen. Dabei sind zwei Mechaniken besonders wichtig: Teilt Rémi Schaden aus, füllt sich seine Lebensleiste – allerdings nur unter Vorbehalt. Erst wenn sich der dabei um ihn herum entstehende Funkenschwarm zu einem blinkenden Kreis formiert hat und dieser im richtigen Moment mit der Schultertaste bestätigt wird, materialisiert sich die verdiente Lebensenergie. Offensive belohnt das Spiel also.
Auch kleine Boss-Kämpfe gibt es in „Hell is Us“. Diese fallen aber keineswegs so spektakulär aus wie in Elden Ring oder Zelda.
(Bild: Nacon / Screenshot: joe)
Dennoch sollten angriffslustige Spieler vorsichtig sein, denn die Lebens- und die Ausdauerleiste sind aneinander gekoppelt. Wer zu viel Energie verliert, kann nur noch schwerfällig attackieren und verteidigen. Zudem sind Medi-Kits in Hadea rar. Diese kleinen taktischen Komponenten sorgen im Zusammenspiel mit den verschiedenen Spezialfähigkeiten, die den Waffen zugeordnet werden können, für flotte und abwechslungsreiche Kämpfe. Auch Rémis Drohne erweist sich nach und nach als wichtiges Werkzeug. Sie kann nicht nur Hieroglyphen entziffern und Licht spenden, sondern hilft mit passiven und aktiven Skills im Kampf, sofern die entsprechenden Module gefunden werden.
Wenn Rémi umzingelt wird, verstärkt die Drohne seine Angriffskraft, löst Flächenschaden aus, lähmt Gegner oder hievt ihren Besitzer in die Höhe, damit er aus der Luft angreifen kann. Ob die Kämpfe über das gesamte Spiel hinweg Spaß machen, können wir nach den ersten zwölf Stunden noch nicht abschließend beurteilen. Das hängt unter anderem davon ab, ob Rogue Factor im späteren Verlauf noch mehr unterschiedliche Gegnertypen einführt und wie sich neu hinzugewonnene Spezialfähigkeiten auswirken. Die Steuerung per Gamepad läuft jedenfalls flüssig und auch in hektischen Momenten stellt die Kameraperspektive kein Problem dar.
(Zu) freie Erkundung?
Die größte Freude bereitete uns im ersten Akt aber ohnehin die freie Erkundung. „Hell is Us“ ist im Herzen ein klassisches Abenteuer und stellt keine Karte zur Verfügung – weder im Großformat noch als Mini-Map. Deshalb ist es auch nicht möglich, auf Fragezeichenjagd zu gehen oder eigene Marker als Erinnerung zu setzen. Es gibt allerdings einen Kompass, der jederzeit zuschaltbar ist und bei der Orientierung hilft. Die einzige Karte im Spiel dient lediglich als Auswahlfeld für die Schnellreisepunkte in den verschiedenen Gebieten. Im Gegensatz zu Großproduktionen wie „Elden Ring“ oder „Assassin’s Creed Shadows“ verfügt „Hell is Us“ nämlich nicht über eine gigantische, zusammenhängende Welt, sondern schickt Spieler in mehrere kompakte, aber offene Gebiete. Diese sind allerdings groß und vor allem interessant genug, um viele Stunden mit ihrer Erkundung zu verbringen.
Rauchwolken, Ruinen oder auffällige Bäume sollten Spieler in „Hell is Us“ als Aufforderung zur Erkundung verstehen.
(Bild: Nacon / Screenshot: joe)
Ähnlich wie in der beliebten „Zelda“-Reihe gibt es neben der „Oberwelt“ zahlreiche Tempel und Dungeons, in die Rémi hinabsteigen kann – und die haben es in sich. Große unterirdische Tempelanlagen können schon mal mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Dabei stoßen Spieler auf besondere Gegner und zahlreiche Umgebungsrätsel, die meistens knifflig, aber nie überfordernd, manchmal offensichtlich, aber nur selten plump sind. Es gelingt Rogue Factor außerordentlich gut, die fehlenden (offensichtlichen) Hilfestellungen durch geschicktes Level-Design und Environmental Storytelling auszugleichen. Betritt Rémi einen neuen Abschnitt, erhält er durch die Kameraeinstellung bereits einen ersten Überblick, wo sich wichtige Orte befinden. Sei es durch aufsteigenden Rauch, einen auffälligen Baum oder bemerkenswerte Steinformationen auf einem Hügel.
Der Blick in die Ferne liefert also nicht nur ein wunderschönes Panoramabild, sondern auch nützliche Informationen. Auch auf kleinem Raum lohnt es sich, Auffälligkeiten an Häusern zu merken oder auf die Geräuschkulisse zu achten. Anstelle von blendenden Farbmarkierungen oder den immer gleichen Stofffetzen auf dem Weg führen in „Hell is Us“ zarte Glockenspiele im Wind oder Babygeschrei aus der Ferne zum Ziel. Wir haben die Gebiete des ersten Aktes ausgiebig erkundet und sind dabei nie stecken geblieben oder verloren umhergeirrt. Lediglich im ersten großen Dungeon spürten wir die Abwesenheit einer Mini-Map. Die verwinkelten, uralten Gemäuer sind zwar eindrucksvoll, aber bei dem vielen Hin und Her zwischen den Etagen wird es manchmal schwierig, die Orientierung zu behalten. Hier ist Konzentration gefragt.
Struktur in Dialogen und Inventar
Ebenso wichtig wie die Umgebung sind die zahlreichen Gespräche mit den NPCs. Spieler sollten mit jedem Einwohner von Hadea das Gespräch suchen. Zwar halten sich viele Figuren kurz, dafür sind die wenigen Worte meist umso nützlicher. Für Dialoge mit wichtigen NPCs wechselt das Spiel in eine Frontalansicht, bei der der Gesprächspartner im Mittelpunkt steht – eine Perspektive, die man nur zu gut aus klassischen Bethesda-Rollenspielen kennt. Leider erinnert „Hell is Us“ auch in puncto Animationsqualität an die meist nur rudimentäre Mimik der Charaktere aus „Oblivion“, „Fallout“ & Co. Die sehr guten Synchronsprecher gleichen den meist fehlenden Realismus in den Gesichtern der Figuren allerdings schnell wieder aus. Sprachausgabe gibt es übrigens nur auf Englisch und Französisch, Text und Untertitel sind auch auf Deutsch verfügbar.
Die Dialoge sind vorbildlich strukturiert: Links alles handlungsrelevante, rechts Hintergrundinformationen zur Spielwelt.
(Bild: Nacon / Screenshot: joe)
So altbacken die Dialogfenster zunächst wirken mögen, so gut ist deren Struktur. Optionales zur Lore, das dem Aufbau der Spielwelt dient, steht immer rechts von der Figur. Für den Fortschritt relevante Dialogoptionen finden sich links. Wer sich also auf die Haupthandlung konzentrieren möchte, sieht auf einen Blick, wo er nachhaken muss. Die Gespräche sind nicht überladen und kommen meist zügig auf den Punkt. Wir haben bisher alle optionalen Dialogoptionen mitgenommen und es nicht bereut. Rogue Factor gibt sich beim Worldbuilding viel Mühe und liefert spannende Hintergrundinformationen über die Geschehnisse in Hadea.
Übrigens gibt es Entwarnung für alle, die Angst haben, dass „Hell is Us“ nur mit offenem Notizbuch spielbar ist. Ja, dieses Spiel fordert Aufmerksamkeit. Konzentration auf das Geschehen, die Umgebung und die Dialoge sind unumgänglich. Allerdings hat Rogue Factor auch eine automatisch wachsende Mindmap integriert, die die wichtigsten Fakten übersichtlich zusammenfasst. So können Spieler nach längeren Pausen auch ohne herkömmliches Quest-Log problemlos wieder in das Spiel einsteigen. Abseits der Mindmap ist das Inventar-Menü hingegen etwas überfrachtet und erfordert viel Pflege. Um die Übersicht nicht zu verlieren, sollte das rudimentäre Sortiersystem für wichtige Notizen und Gegenstände unbedingt genutzt werden. Was nicht mehr gebraucht wird, kann als „archiviert“ markiert werden und erscheint somit am Ende der Liste. Favoriten bleiben ganz oben stehen. Technisch macht „Hell is Us“ bislang eine gute Figur: Wir hatten auf der Playstation 5 keine Probleme. Nur vereinzelt traten Pop-ins auf, Framerateeinbrüche gab es aber nie.
Ersteindruck: Ein Spiel, das nachhallt
„Hell is Us“ entfaltet einen Sog, wie es nur wenigen Open-World-Abenteuern gelingt. Ohne Karte, Questmarker oder Hilfslinien dürfen Abenteurer eine Welt erkunden, die ein beeindruckendes und zugleich verstörendes Bild zwischen Dystopie, Schwermut und fragiler Schönheit zeichnet. Das vom Krieg gebeutelte Hadea wird zudem von einer Soundkulisse umgeben, die mit mysteriösen Synthieklängen, brummenden Helikopterrotoren oder feinen Windspielen stets eine dichte, bedrohliche, aber auch lebendige Atmosphäre erzeugt. Nein, „Hell is Us“ ist kein Spiel für die breite Masse, auch wenn es das Potenzial hat, diese zu erreichen. Denn wer sich auf diese intensive Reise einlässt, wird belohnt und erlebt ein Spiel, das zum Denken anregt und mehr ist als stumpfe Berieselung.
„Hell is Us“ ist ab 16 Jahren freigegeben, erscheint am 4. September 2025 für Playstation 5, Xbox Series X/S und PC (Steam und Epic Game Store) und wird 50 Euro (PC), bzw. 60 Euro (Konsolen) kosten. Wir haben es auf der Playstation 5 ausprobiert.
(joe)
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