Die Zerstörung des ukrainischen Neptun-Marschflugkörpers zeigt: Russland lernt militärtechnisch enorm dazu. Aber auch die Ukraine mache Fortschritte, sagt Oberst Markus Reisner. Hilfe bekomme Kiew aus Berlin, etwa beim Bau der weitreichenden Drohne An-196 Luty.
ntv.de: Die Vorsitzenden der beiden Koalitionsfraktionen, Jens Spahn und Matthias Miersch, sind zu Überraschungsbesuch in Kiew und wollen Gespräche über die weitere deutsche Unterstützung der Ukraine führen. Was braucht Kiew am dringendsten?
Markus Reisner: Es geht vor allem um die Frage, ob es möglich ist, mit Rückendeckung der Amerikaner eine zukünftige Friedenstruppe für die Ukraine aufzustellen. Das wird in den europäischen Hauptstädten derzeit intensiv diskutiert. Deutschland versucht hier ebenfalls, seinen Platz in der Diskussion zu finden. Diesbezüglich gibt es widersprüchliche Aussagen der Bundesregierung. Am Wochenende hieß es, man stellt keine Friedenstruppen, sondern möchte nur finanzielle Unterstützung leisten. Auch das ist wichtig, weil die Ukraine neben der Wirtschaft auch den Staat am Laufen halten muss. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius ließ jedoch wissen, dass eine Debatte bezüglich einer Truppengestellung noch zu früh wäre. Er widersprach damit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die bereits von „präzisen“ europäischen Plänen sprach.
Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Wie kann die Bundesregierung der Ukraine militärisch am besten unter die Arme greifen?
In den vergangenen Wochen kam es zu einer merklichen Intensivierung der strategischen Luftkampagne der Ukrainer gegen Russland, mit vielen weitreichenden Angriffen von Drohnen, unter Umständen auch bereits mit dem neuen Marschflugkörper FP-5 Flamingo, den die Ukraine selbst herstellt. Das ist möglich, weil es im Hintergrund Rüstungsprojekte ausgewählter europäischen Staaten mit Kiew gibt, durch die man gemeinsam verschiedene Waffensysteme, die von der Ukraine entwickelt wurden, vorantreibt. Auch die deutsche Bundesregierung unterstützt hier.
Kann die Ukraine durch die Drohnenangriffe Vorteile erringen?
Die Ukraine braucht die Fähigkeit, eine gewisse Parität gegenüber den Russen herzustellen, um eine gute zukünftige Verhandlungsposition in möglichen Friedensgesprächen zu haben. Die russische Seite hat seit letztem Jahr auf dem Schlachtfeld die Initiative – und war im Vorteil. Die Ukraine war eher in der Defensive. Jetzt kann man erkennen, dass die Ukraine mit den Drohnenattacken den verheerenden russischen Luftangriffen etwas entgegensetzt. Vor allem russische Raffinerien werden angegriffen, um die Energie-Infrastruktur Russlands zu beschädigen. Experten gehen bereits von einem Einbruch von zwischen 17 und 21 Prozent der russischen Produktion aus. Das schmerzt die Russen.
Die Bundesregierung hat Stillschweigen zu Waffenlieferungen an Kiew vereinbart, auch was den Marschflugkörper Taurus angeht. Falls die Ukraine den Taurus bekommen und einsetzen würde, gäbe es Indizien dafür, richtig?
Die würde es unmittelbar geben – und zwar in dem Moment, in dem die ersten Trümmerstücke auftauchen würden. So war es auch in der Vergangenheit. Immer dann, wenn neue westliche Waffensysteme eingesetzt wurden, hat man das rasch erkennen können, weil die Russen diese Trümmerstücke präsentiert haben. Das war zum Beispiel bei den ersten Attacken mit bei den HIMARS- und ATACMS-Systemen aus den USA im Sommer 2022 und 2023 der Fall – oder auch bei den Angriffen mit den Systemen Storm Shadow und Scalp aus Großbritannien und Frankreich 2023. Anhand der Trümmer lässt sich eindeutig die Baugruppe und somit die Zugehörigkeit zu einer Waffe bestimmen.
Aber die Ukraine kann jetzt allein mit diesen weitreichenden Drohnen schon viel bewirken, auch ohne den Taurus.
Genau. Mitte des Sommers wurde bekannt, dass Deutschland unterstützend in den Bau ukrainischer Drohnen investiert. Berichtet wurde über den Bau der Drohnen vom Typ An-196 Luty. Das sind oft jene Drohnen, die jetzt auf Videos von den russischen Angehörigen der Zivilbevölkerung zu sehen sind, kurz vor dem Einschlag bei einem Angriff. Diese Drohnen werden verwendet, um russische Ölraffinerien, militärische Einrichtungen und Ähnliches zu treffen. Die Berichterstattung über die deutsche Beteiligung am Drohnenbau war aber zurückhaltend. Ich nehme an, dass man versucht hat, das unter der Decke zu halten. Aber es ist ziemlich eindeutig: Deutschland hilft beim Bau von Drohnen, die tief in Russland einschlagen.
Sprechen sich die Ukrainer vor diesen Attacken mit den USA ab?
Ich bin mir sicher, dass dies im Moment nur teilweise oder gar nicht passiert. Wir haben das gesehen bei dem Angriff der Ukraine auf die Druschba-Pipeline: Die ungarische Regierung hat sich darüber beschwert, dass es bei für sie wichtigen Öllieferungen zu Einschränkungen kommt. Anschließend sagte US-Präsident Donald Trump, er sei sehr wütend über diese Attacken. Er wurde von ukrainischer Seite zuvor nicht eingeweiht. Die Ukraine führt diese Angriffe also zum überwiegenden Teil selbstständig durch. Falls die USA sich dazu entscheiden würden, der Ukraine die angekündigten weitreichenden ERAM-Flugkörper in hoher Zahl zu liefern, wäre Kiew beim Einsatz der Waffen auf Trumps Erlaubnis angewiesen. Deshalb ist es so wichtig, die Ukrainer beim Bau weitreichender Drohnen zu unterstützen – weil die Ukraine damit in die Lage kommen, selbstständig und ohne Absprache mit den USA Ziele in der russischen Tiefe anzugreifen. Sie kann somit eigenständig Druck aufbauen.
Um nochmals auf die europäischen Absprachen zu Friedenstruppen nach einem möglichen Waffenstillstand zu kommen: Wie weit sind die Pläne gediehen?
Egal, wie weit die Pläne gediehen sind: Das Entscheidende ist nach wie vor das mögliche Mandat einer europäischen Friedenstruppe in der Ukraine. Das Mandat bestimmt, was der Soldat im Einsatzraum tun darf. Vorher muss daher die Frage beantwortet werden: Was lässt der Konsens der Konfliktparteien, die in diesem Krieg involviert sind, zu? Seit Ende des Zweiten Weltkriegs spielt die UN-Charta hier die entscheidende Rolle. Sie bietet die Möglichkeit einer Friedenssicherung durch eine Beobachtungsmission. Die Soldaten können beobachten, ob der Frieden eingehalten wird, dürfen aber, außer in Notwehr, nicht schießen. Die Steigerung davon ist eine Friedensschaffung, die erlauben würde, dass internationale Truppen in einem Konflikt intervenieren und die Konfliktparteien voneinander trennen.
Müsste Russland jedem Mandat internationaler Truppen in der Ukraine zustimmen?
Ja. Und Russland sagt nach wie vor: Wir akzeptieren internationalen Soldaten auf ukrainischem Territorium nicht, egal, ob die an der Front stehen oder in Lemberg. Sobald die Soldaten einen Fuß auf ukrainischen Boden setzen, werden sie für uns legitime Kriegsziele. Das lässt allen politisch und militärisch Verantwortlichen in den europäischen Hauptstädten die Haare zu Berge stehen. Keiner möchte das Risiko eingehen, Soldaten in die Ukraine zu schicken, die von den Russen angegriffen werden. Ohne die massive militärische Rückendeckung der USA gäbe es wenige, eingeschränkte oder keine Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren.
Trump sprach von US-Sicherheitsgarantien ähnlich dem Artikel 5 der Nato-Beistandspflicht, von Unterstützung in der Satellitenaufklärung, dem Nachrichtenwesen und der Luftverteidigung. Ist das alles nur heiße Luft?
Zumindest gibt es Berichte, wonach Trump frustriert ist über die Europäer, weil man seinem Friedensplan nicht zustimmen möchte. Trump sagt demnach: wenn die Europäer den Krieg verlängern wollen, sollen sie das selber machen. Trump soll auch überlegen, private Sicherheitsunternehmen zur Friedenssicherung in der Ukraine einzusetzen statt US-Soldaten. Zugleich überlegt er trotzdem doch potente militärische Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, wenn die Konditionen so passen, wie er das möchte. Der Punkt ist: Alle Beteiligungen der Europäer an Friedenstruppen stehen unter dem Vorbehalt, dass die USA militärisch Rückendeckung geben, weil Russland sonst nichts entgegengesetzt werden kann. Das geht in letzter Konsequenz bis zur Nuklearbewaffnung der Russen als solche. Sicherheitsgarantien oder Friedenstruppen ohne ein – sagen wir – gezogenes scharfes amerikanisches Schwert im Hintergrund sind das Papier nicht wert.
Falls die USA doch noch mitmachen – wo und wie könnten europäische Soldaten in der Ukraine eingesetzt werden?
Es gibt den Vorschlag, eine Pufferzone entlang der ehemaligen Frontlinie einzurichten von einer Breite von bis zu 40 Kilometern. Hier würde ein neutrales Land patrouillieren. Das könnten etwa Indien oder China übernehmen. Die zweite Verteidigungslinie wären ukrainische Verbände, die sich hinter die Frontline 20 Kilometer auf ihre Seiten zurückziehen, weiter ausgebildet und ausgerüstet werden. Dann käme die dritte Linie in der Tiefe mit europäischen Truppen, die in eigenen Camps die ukrainische Armee ausbilden. Das Ganze würde verknüpft mit einer überwachten Flugverbotszone oder Ähnlichem. Aber falls die Europäer beginnen, den Luftraum in der Ukraine zu patrouillieren – was sollte die Russen daran hindern, sich aktiv auf Luftkämpfe einzulassen mit den Europäern, falls diese nicht auf die USA zählen können?
Angesichts eines sprunghaft handelnden Trump – sind die US-Sicherheitsgarantien, falls er sie denn geben würde, überhaupt noch etwas wert?
Wahrscheinlich nicht. Ich glaube nicht, dass Trump grundsätzlich von seiner ursprünglichen Linie abgekommen ist. Er sagt: Es ist nicht mein Krieg, ich habe mit diesem Krieg nichts zu tun, ich möchte ihn so schnell wie möglich beenden. Aus meiner Sicht bedeutet das: Die Ukraine soll nachgeben, die Russen sollen das bekommen, was sie jetzt haben. Punkt. Das ist der einzige rote Faden, der sich bei Trumps Ukraine-Politik durchzieht. Trump schmiert den Europäern mit möglichen Sicherheitsgarantien Honig ums Maul, um sie davon zu überzeugen, mehr Mut zu haben. Europa kommt zwar in die Gänge, um sicherheitspolitisch mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, aber nur langsam. Trumps erratisches Handeln ist eine große Gefahr. Stellen Sie sich vor, die Europäer, die jetzt beginnen, diese Truppen zu sammeln, bekommen dann von Trump gesagt: Das habt ihr gut gemacht, aber wir wollen euch mitteilen, wir haben ab morgen andere Sorgen.
Wenn wir nun den Blick auf die Front werfen: Wo toben momentan die heftigsten Kämpfe?
Die Russen erhalten den Druck entlang der gesamten Frontlinie unverändert stark aufrecht. Wir sehen ein Nachlassen der Kämpfe im Nordabschnitt zwischen Sumy und Charkiw. Russische Truppen, vor allem Dohnenteams, werden aus dem Nordabschnitt in den Mittelabschnitt zwischen Kupjansk und Pokrowsk verlegt. Bei Pokrowsk tobt vor allem der Kampf um das Narrativ: Wer hat den größeren Erfolg? Die Russen sind vor einigen Wochen überraschend mit kleinen Trupps relativ weit vorgestoßen. Die Ukraine hat dann operative Reserven eingesetzt. Kiew sagt, die Russen konnten zurückgedrängt und eingekesselt werden. Die Russen behaupten das Gegenteil.
Was stimmt?
Mit Blick auf die Videos beider Kriegsparteien in sozialen Netzwerken erkennt man: Die Ukrainer greifen mit Drohnen russische Truppen nördlich von Pokrowsk erfolgreich an. Das bedeutet aber auch, dass die Russen dort eben noch nicht zurückgedrängt wurden. Im Südabschnitt bei Saporischschja führen die Russen Offensivanstrengungen durch, entlang des Dnepr und südlich von Pokrowsk in Richtung Westen. Die Russen sind davon überzeugt, dass sie am Ende der Sommeroffensive die Voraussetzungen geschaffen haben, um weiter Druck zu machen.
Zurecht?
Ja, die Russen lernen militärtechnisch dazu. Ein Video zeigt, wie die Russen einen ukrainischen Werfer von Anti-Schiffs-Raketen vom Typ Neptun zerstören. Um das Ziel zu treffen, muss zuvor durch weitreichende Drohnen aufgeklärt werden, wo es sich befindet. Den Russen gelang Aufklärung und Wirkung innerhalb von Minuten, obwohl sich das Neptun-System tief in der Ukraine befindet. Eine schnelle Aufklärung auf diesem technischen Niveau konnten bislang nur die USA leisten. Jetzt ist klar: Auch die Russen sind mittlerweile in der Lage, bis zu 160 Kilometer hinter der Front ein Lagebild zu generieren und sofort anzugreifen. Das hat Aufregung in den militärischen Kreisen in Europa verursacht.
Warum?
Man darf mit Blick auf die mögliche Entsendung von Friedenstruppen nicht vergessen: Wenn die Russen in der Lage sind, Iskander-Raketen oder Marschflugkörper punktgenau in der Tiefe der Ukraine einzusetzen, muss das den Europäern Sorge bereiten. Das ist der Knackpunkt, noch vor dem unmittelbaren Kampf europäischer Soldaten mit den russischen an der Front: Die technische Fähigkeit der Russen, durch Drohnen oder Satelliten aufzuklären und in der Tiefe des Landes anzugreifen. Die Europäer können das kaum oder nur sehr eingeschränkt leisten. Die umfängliche Satellitenaufklärung durch die USA macht den Unterschied. Darum ist es so wichtig, das Europa sicherheitspolitisch endlich Fahrt aufnimmt.
Mit Markus Reisner sprach Lea Verstl