Seit der Eröffnung der Elbphilharmonie haben die Symphoniker Hamburg sich unter der Leitung ihres Intendanten Daniel Kühnel und ihres Chefdirigenten Sylvain Cambreling als Residenzorchester der Laeiszhalle weiter entwickeln können. Das hatten viele in der Musikwelt im Schatten des großen Konzerthauses so nicht erwartet. Und auch darüber hinaus bringen Kühnel und sein Team die Klassik und interdisziplinäre Kulturprojekte in neue Räume und zu den Menschen, und das nicht nur in der Hansestadt. Bei einem Treffen spricht der Intendant über internationale Konzerte an ungewöhnlichen Orten, Festivals mit großen Namen und spannende Konzepte für die kommende Saison. Diese beginnt am 21. September in der Laeiszhalle unter Leitung von Cambreling mit der Kombination des Orchesterstückes „Schreiben“ von Helmut Lachenmann – einer Reflexion über das Komponieren – und der ersten Sinfonie von Gustav Mahler.
„Das Konzert-Ereignis muss sich auf das Leben beziehen.“
WELT: Sie starten mit dem Goethe-Zitat „Und jeder Schritt ist Unermesslichkeit“ in die kommende Saison, der Schlusszeile des Gedichts „Prooemion“, in dem Goethe beschreibt, wie in der Welt das Göttliche ewig in immer neuen Formen erscheint. Warum gerade dieses Zitat?
Daniel Kühnel: Mir gefällt daran zunächst einmal, dass den Symphonikern Hamburg seit Jahren gelingt, die Saison um einen Gedanken herum zu gestalten, zu gruppieren. Der Ansatz ist wichtig, weil wir in einer Welt leben, in der – verständlicherweise – nicht alle Menschen wissen, was wir als Orchester genau tun. Mir ist es sehr wichtig, dass Orchester und das Publikum gleichermaßen verstehen, dass wir nicht dekorativ sind. Unsere Konzerte sind nicht belanglose Zugaben zu einem vorbeifließenden Leben. Das Konzert-Ereignis muss sich auf das Leben beziehen, als ein Teil unserer Realität. Das ist die Grundlage des Versuchs, aus Klang Sinn zu machen, der sich im Leben jedes Musikers und jedes Zuhörers auswirkt, der es substanziell bereichern kann, wenn wir von einem Gedanken ausgehen.
WELT: Und da bietet sich Goethe an …
Kühnel: Dass dieser spielerische Gedanke in den vergangenen Jahren immer von Goethe ausging, ist natürlich schön. In der kommenden Spielzeit wollen wir uns mit Anfängen beschäftigen. Für mich ist das ein berauschender Gedanke: Wir können als Menschen immer ein Anfang sein, einen neuen Anfang machen. In unseren Tagen der Kriege und vielen Disruptionen scheint mir das sehr wichtig.
„Im Aufschreiben dessen, was wir erleben, entsteht Sinn.“
WELT: Das macht neugierig: Wie macht man daraus Klang?
Kühnel: Diese Frage hat viele Menschen inspiriert. Wir fangen im ersten Konzert am 21. September mit dem Stück „Schreiben“ von Helmut Lachenmann an, dem Komponisten der Geräusche als Musik. Das ist interessant, weil in „Schreiben“ auch der „Schrei“ steckt. Da hat man sofort Assoziationen an den „Schrei“ von Edvard Munch zum Beispiel. Mit dem Schreiben ist auch menschheitsgeschichtlich ein neuer Anfang gemacht worden. Im Aufschreiben dessen, was wir erleben, entsteht Sinn. Das hat sehr viel mit der ersten Sinfonie von Gustav Mahler zu tun, die wir gleich nach „Schreiben“ hören.
WELT: Beide Werke heben sanft an und laden freundlich zum Hören ein.
Kühnel: Mahlers Anfang enthält zwar keine auskomponierten Geräusche wie bei Lachenmann, aber auch Mahlers Erste fängt eigentlich mit Geräusch an. Das ist Klang und nicht Note, die da gespielt wird. Das unterschätzen wir heute, aber die Komposition entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Die Spielanweisung für den ersten Satz lautet: „Langsam. Schleppend. Wie ein Naturlaut – im Anfang sehr gemächlich“. Im ersten Satz tauchen verschiedene Naturlaute in Motivfetzen auf. Mahler macht daraus eine große Reise. Ich glaube, in der Kombination Lachenmann und Mahler manifestiert sich, und das zieht sich durch viele der Programme der kommenden Saison, ein entschlossener Zugriff.
„Dasselbe Stück von Mozart kann relevant oder irrelevant gespielt werden.“
WELT: Der Zugriff erzwingt die Relevanz?
Kühnel: Lachenmann klingt anders als Mozart, aber es ist eine sehr ernst gemeinte Musik und jeder Mensch kann sich da hineinhören. Davon bin ich überzeugt. Stücke, die nicht so sind, spielen wir nicht. Das ist sehr wichtig. Über den irritierenden Moment kommt der Hörer ins Staunen, er denkt vielleicht neu über die Dinge nach. Das ist nicht zwingend, aber das Konzert soll begeistern und einen Effekt haben.
WELT: Das sind philosophische Momente im Konzert.
Kühnel: Jeder, der im Konzert dieses Moment erlebt hat – wo dann am Ende plötzlich das Publikum wie eins aufsteht – weiß, dass im Saal eine andere Öffentlichkeit entsteht als davor. Auf der Straße herrscht eine andere Realität. Das heißt, wir wissen alle aus unserer eigenen, auch körperlichen Erfahrung, dass im Konzert etwas passiert. Wir müssen es nur deutlicher sagen. Dabei wollen wir artikulieren, was uns heute angeht. Und das ist unabhängig vom Stil. Dasselbe Stück von Mozart kann relevant oder irrelevant gespielt werden.
„Es geht um die Lust am Neuanfang.“
WELT: Wie setzt sich der Spannungsbogen in der Saison fort?
Kühnel: Wir haben auch die erste Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch im Programm und sehr viele Debüts, von jungen Dirigenten zum Beispiel. Unser Chefdirigent Sylvain Cambreling und ich sprechen also sehr bewusst von einer Saison der Anfänge. Im Neuanfang manifestiert sich auch die Suche nach einer neuen Haltung, angesichts aller Krisen und Kriege. Frei nach Hannah Arendt: Wir können es jetzt ganz anders machen als bisher. Arendt schlägt aus dieser Überlegung den Bogen zum Gedanken von Augustinus, dass der Mensch in die Welt getan worden ist, damit in der Welt ein Anfang sei – und es geht um die Lust am Neuanfang.
WELT: Welche Dirigenten geben in der kommenden Saison ihr Debüt in der Laeiszhalle?
Kühnel: Nicholas Ellis zählt zu den größten Talenten aus Kanada, so wie Adam Hickox zu jenen aus England. Der französische Violinist Pierre Bleuse dirigiert bei uns. Aus Deutschland kommt der vielseitige Aurel Dawiduk. Jonathan Stockhammer mit 55 Jahren und erst recht Ton Koopmann, eine Autorität der historischen Aufführungspraxis, mit 81 Jahren, zählen zwar nicht zu den jungen Dirigenten, aber über ihre Debüts bei den Symphonikern Hamburg freue ich mich sehr.
„Das Martha Argerich Festival ist ein echter Dauerbrenner.“
WELT: Sie selbst sind ein Spezialist für Anfänge, haben zum Beispiel 2018 das sehr erfolgreiche Martha Argerich Festival mit der weltberühmten Pianistin gegründet …
Kühnel: … dessen siebte Ausgabe Ende Juni endete. Das Festival ist ein echter Dauerbrenner mit spannenden Gästen, wie beispielsweise im jüngsten, ausverkauften Eröffnungskonzert Mischa Maisky und Maxim Vengerov, und neuen Formaten. Das Argerich Festival zeigt prototypisch, was die Laeiszhalle noch stärker für die Stadt sein könnte. Da gibt es dann jeden Tag Lunchkonzerte mit rund 200 Besuchern und es spielen unbekannte Pianisten, auf Empfehlung von Martha Argerich … ein tolles Bild.
WELT: Und dann haben Sie aus Hamburg auch noch ein Festival im Osten Deutschlands gegründet, südöstlich von Berlin …
Kühnel: Mein Team und ich haben vor fünf Jahren das Lausitz-Festival ins Leben gerufen, das mittlerweile sehr schön gedeiht. Das ist nicht nur Musikfestival, sondern ein Mehrspartenfestival mit einer sehr starken Theatersparte. Der Strukturwandel in der Lausitz wird dadurch von Kunstereignissen begleitet. So lautet der Auftrag, den wir bislang sehr erfolgreich erfüllen – eine interessante Ergänzung zur Tätigkeit in Hamburg. In Hamburg arbeiten wir in einer Großstadt mit Schwerpunkt Musik, in der alles, was in der Welt Rang und Namen hat, vorbeikommt, mit dem man sich als Symphoniker messen muss. Die Lausitz ist eine sehr dünn besiedelte Region. Dort mit Theater politisch zu intervenieren, oder mit Kunst, natürlich nicht im parteipolitischen Sinne, ist eine sehr spannende Aufgabe.
„Reger Zulauf bedeutet in der Lausitz nicht dasselbe wie in New York.“
WELT: Das Lausitz Festival ist nicht nur, aber maßgeblich durch Bundesmittel finanziert …
Kühnel: Das ist vor allem in den ersten fünf Jahren so gewesen, das finanzielle Engagement der Länder Sachsen und Brandenburg steigt aktuell erheblich, so dass man jetzt von einer Kofinanzierung sprechen kann. Die Bundesmittel von zwei Millionen Euro pro Jahr sind bis 2038 gesichert. Das Festival beginnt Ende August und wir haben 2025 einen wirklich regen Zulauf, wobei reger Zulauf in der Lausitz nicht dasselbe bedeutet wie in New York.
WELT: Dann gibt es ein weiteres, internationales Projekt, an dem sie ausdauernd arbeiten, aber leider nicht verstärkt in Hamburger Institutionen.
Kühnel: Sie spielen auf die Festivals an, die ich seit 2015 in großen Museen gemacht habe. Das fing mit der Staatlichen Kunstsammlung in Dresden an, dann ging es nach London ins British Museum und nach Jerusalem auch. In Hamburg kooperieren wir stark mit der Kunsthalle. Die Begegnung zwischen dem materiellen und dem klingenden Erbe der Menschheit ist faszinierend. Da sieht man Leute aus der ganzen Welt kommen, um berühmte Tonscherben zu bestaunen. Andere gehen vorbei, sehen da noch so eine Tonscherbe und wissen nicht, was sie damit anfangen sollen. Musik kann Aufmerksamkeit wecken. Da geben wir neben einem Exponat in einer kleinen Vitrine ein Konzert – und plötzlich kommen Leute aus ganz unterschiedlichen Kulturen und hören etwas, fühlen etwas, was sie sonst nicht bemerkt hätten. Damit wären wir wieder beim Konzerterlebnis, das die Wahrnehmung und damit die Besucher verändert – und das nicht etwa das Museum dekoriert.