Es ist mittlerweile einige Jahre her, dass ich auf dem Friedrichshainer Markgrafendamm einen Balkon entdeckt habe, auf dem neben der Balkontür eine Mesusa hängt. Eine Mesusa ist ein kleines längliches Kästchen, das eine beschriftete Pergamentrolle mit einem Text aus der Tora beinhaltet und in jüdischen Haushalten schräg am äußeren Drittel der Türrahmen angebracht wird.

Als ich klein war und meine Mutter noch lebte, hing immer eine Mesusa an dem Rahmen unserer Wohnungstür. Allerdings innen statt außen, wo sie eigentlich hingehört. Vermutlich weil es meiner Mutter, wie vielen Jüd*innen, zu riskant war, unsere Wohnung von außen sichtbar als jüdischen Haushalt zu markieren. Auch ich habe in meiner Wohnung an jeder Tür (außer am Badezimmer) eine Mesusa hängen. Aber genauso wie damals bei meiner Mutter hängt die Mesusa an meiner Wohnungstür nicht außen, sondern innen.

Die Temperatur dieser Stadt

Gerade deshalb freue ich mich jedes Mal enorm, wenn ich auf dem Markgrafendamm unterwegs bin und die Mesusa sehe, die dort stolz und unversteckt für alle sichtbar über der Straße thront. Voller Vorfreude starre ich aus dem Busfenster und warte auf das weiße Haus mit den silbernen Balkonen. Die kompromisslose Sichtbarkeit des jüdischen Objekts bestärkt mich, schenkt mir Mut und ein bisschen Zuversicht.

Mehr Schlamasseltov-Kolumnen Das Schweigen im Hof Wie ich nach dem 7. Oktober isoliert wurde Ein jüdischer Blick auf den Community Dyke*March Lesbische Sichtbarkeit – aber nicht für alle Ihre Jagd auf die „fake Juden“ Die seltamen Attacken der Deborah Feldman

Als der Bus heute auf den Markgrafendamm einbiegt, öffne ich meine Kamera-App. Nicht, um die Mesusa zu fotografieren, sondern um sie mir mit dem Zoom genauer anschauen zu können.

Die Überraschung ist groß, als mein Handydisplay enthüllt, dass das herangezoomte Objekt meiner Freude keineswegs eine Mesusa ist, sondern ein schräg hängendes Thermometer. Jetzt wünsche ich mir, meine Neugierde hätte nicht gesiegt. Denn dann könnte ich weiter in dem Glauben leben, dass auf dem Markgrafendamm eine jüdische Person lebt, die, im Gegensatz zu mir, mutig genug ist, um jüdisches Brauchtum offen zu zelebrieren.

Immerhin weiß ich nun, dass es heute 19 Grad hat.