Es ist nicht ohne Ironie, dass nach einigem Hin und Her gerade Francis Lawrence die Regie von „The Long Walk – Todesmarsch“ übernommen hat. Immerhin hat der in Wien geborene US-Amerikaner bereits vier „Die Tribute von Panem“-Blockbuster verantwortet – und im Kern sind die dystopischen Fantasy-Romane von Suzanne Collins ja nichts anderes als eine aufgeplusterte Version des 1979 veröffentlichten Stephen-King-Romans: Wo in „Panem“ jeweils zwei Tribute pro Distrikt bei den Hungerspielen gegeneinander antreten, wird in „The Long Walk“ ein freiwilliger Teilnehmer pro US-Bundesstaat ausgelost, der dann am titelgebenden Ausdauermarsch teilnehmen darf.
Auch die Begründung für die staatlich verordneten Überlebenskämpfe ist ähnlich: In „Panem“ werden die Hungerspiele vom Kapitol als Möglichkeit angepriesen, Ruhm, Ehre und bessere Lebensbedingungen für sich und den eigenen Distrikt zu erstreiten. Der vom Major (Mark Hamill) ausgetragene Gewaltmarsch wiederum ist nicht nur die einzige Möglichkeit, aus der Armut herauszukommen – er steigert zudem die Produktivität der gesamten Gesellschaft, nachdem die jungen Männer vorgeführt haben, was wahre Opferbereitschaft bedeutet. Man merkt schon: In Sachen Zynismus geben sich die Szenarien, die jeweils in einem autokratischen Regime nach einem US-amerikanischen Bürgerkrieg angesiedelt sind, herzlich wenig.
LEONINE
Der Major (Mark Hamill) ist der Herr des Gewaltmarsches. Aber im Gegensatz zu den Teilnehmern gönnt er sich jede Nacht eine gesunde Mütze Schlaf.
Der größte Unterschied besteht hingegen im Ausmaß des (Medien-)Spektakels: Wo bei den Hungerspielen ganz bewusst die Inszenierung als TV-Sensation an erster Stelle steht, fahren die Teilnehmenden in „The Long Walk“ selbst zur Startlinie irgendwo im Nirgendwo – und wandern anschließend hunderte Meilen an überwiegend einsamen Landstraßen entlang, begleitet nur von zwei Panzern und einem Dutzend Soldat*innen. Ein Ziel gibt es nicht, stattdessen geht es immer weiter, bis nur noch ein Kandidat übrig ist. Wer das vorgeschriebene Tempo von drei Meilen pro Stunde unterschreitet, wird augenblicklich verwarnt – und bei der dritten Warnung folgt bereits die Exekution per Kopfschuss.
Dasselbe gilt für alle, die die Straße verlassen. Die TV-Kameras oder Menschen, die sich die Übertragung ansehen, sind hingegen nie zu sehen – stattdessen bleibt man immer ganz nah bei den jungen Männern, deren Beziehungen zueinander sich über die Distanz ganz anders entwickeln als man es von einem „Duell“ auf Leben und Tod eigentlich erwarten würde. Als sich „The Walking Dead“-Schöpfer Frank Darabont bereits im Jahr 2007 die Kinorechte an dem Stoff gesichert hat, schwebte ihm deshalb auch ganz bewusst eine Low-Budget-Verfilmung vor – und Francis Lawrence tut gut daran, sich ebenfalls ganz auf das Wesentliche zu konzentrieren, statt den Stoff gegen seine Natur auf Blockbuster-Dimensionen aufzublasen.
Der Film steht und fällt mit seiner Besetzung
Wenn der Name Stephen King schon fett gedruckt auf dem Plakat steht, dann ist es natürlich logisch, dass ein Großteil des Kinopublikums aus Genre-affinen Besucher*innen bestehen wird. Deshalb ergibt es auch Sinn, dass Francis Lawrence die zahlreichen Exekutionen mit viel Gore regelrecht zelebriert – von anderen Todesarten mal ganz zu schweigen: An einer Stelle werden einem Teilnehmer beide Beine von einer Panzerkette plattgefahren – und trotzdem verwarnen die Soldat*innen ihn 30 Sekunden lang, er solle wieder aufstehen, bevor sie ihm den erlösenden Kopfschuss verpassen. Solch ein absurdes Festhalten an den Regeln lässt den Wettkampf umso zynischer erscheinen, weil es den trügerischen Eindruck unterstreicht, dass hier alles immer mit rechten Dingen zugeht – ein ja gern verwendeter Trick autokratischer Regimes.
Die Gore-Momente sind trotz ihres gerüttelten Gewaltgrads nur halb so heftig wie die Szenen, in denen sich an Diarrhö leidende Teilnehmer während des Gehens zu erleichtern versuchen – da konnte in unserer Vorstellung wirklich kaum noch jemand hinschauen, ohne sich die Hände vors Gesicht zu halten. Aber abgesehen von diesen heftigen Einschüben besteht „The Long Walk“ – wie schon der Titel verspricht – zu 95 Prozent aus einigen Dutzend junger Männer, die einsame Straßen entlangwandern und sich dabei über Gott und die Welt unterhalten. So wird den Horror-Fans im Kern ein astreines Dialog-Drama untergejubelt …
LEONINE
Die #47 Raymond Garraty (Cooper Hoffman) und die #23 Peter McVries (David Jonsson) sind nur zwei von 50 jungen Männern, die für Reichtum, Ruhm und ihr Leben marschieren.
… und bei einem solchen spielt ja traditionell vor allem das Casting eine ganz entscheidende Rolle. Aber in dieser Hinsicht haben Francis Lawrence und sein Team gleich eine ganze Reihe von Volltreffern gelandet: Während sich unter den Mitmarschierenden auch bekanntere Gesichter wie Charlie Plummer („Alles Geld der Welt“) oder Ben Wang (das neue „Karate Kid“) finden, brillieren vor allem die beiden Hauptdarsteller mit Performances, die nur deshalb in der kommenden Awards-Saison keine Rolle spielen werden, weil derart brutale Horrorfilme bei solchen Preisen ja traditionell nicht allzu ernst genommen werden:
Philip Seymour Hoffmans Sohn Cooper Hoffman bestätigt seinen starken Eindruck, den er als Hauptdarsteller in Paul Thomas Andersons „Licorice Pizza“ hinterlassen hat. Sein Raymond Garraty (#47) ist die Identifikationsfigur fürs Publikum – und hält zudem die Spannung hoch, weil von Anfang an klar ist, dass Geld nicht seine zentrale Motivation für die Teilnahme ist. David Jonsson („Alien: Romulus“) entpuppt sich jedoch als wahre Entdeckung: Als Peter McVries (#23) bringt er ein solches Maß an Menschlichkeit auf die Leinwand, dass sich „The Long Walk“ in eine ganz andere, bedeutend tragischere und berührendere Richtung entwickelt, als man es von einem solch erbarmungslosen Kampf auf Leben und Tod eigentlich erwarten würde.
Fazit: Wer das große Spektakel will, muss sich leider noch ein wenig gedulden – und zwar bis zum 6. November 2025, wenn dann mit „The Running Man“ eine weitere Stephen-King-Verfilmung in die Kinos kommt, die zwar ganz ähnliche Themen aufgreift, aber dabei ein viel größeres Feuerwerk abfeuern wird. Francis Lawrence hingegen verfilmt Stephen Kings verstörendes Quasi-Vorbild von „Die Tribute von Panem“ ganz bewusst mit einem für Hollywood-Verhältnisse eher bescheidenen Budget – ohne jedes Blockbuster-Brimborium, aber dafür mit der vollen Konzentration auf das, was wirklich zählt.