Am Morgen des 8. Februar 1977 betrat Tony Kiritsis, der sich von seinen Bankern betrogen fühlte, das Büro der Meridian Mortgage Company in Indianapolis. Dort überwältigte er Richard Hall, den Sohn des Firmenpräsidenten, und befestigte eine abgesägte 12-Gauge-Schrotflinte mit einem speziellen Drahtgestell nicht nur am Hals seines Opfers, sondern auch an seinem eigenen Körper. Eine solche amateurhafte Konstruktion wird auch „Dead Man’s Wire“ genannt, denn wenn der Täter etwa von Scharfschütz*innen getroffen zu Boden fällt, wird trotzdem auch das Opfer erschossen. Es folgte eine 63-stündige Geiselnahme, bei der die Böse-Banker-Tiraden von Tony Kiritsis teilweise live im Radio und Fernsehen gesendet wurden.

Bereits 2018 sollte die spektakuläre Geschichte verfilmt werden, mit Werner Herzog als Regisseur und Nicolas Cage als Hauptdarsteller. Wer die erste Kooperation der beiden, „Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen“, gesehen hat, der ahnt, was für ein existenzialistischer Wahnsinnstrip dabei vermutlich herausgekommen wäre. Stattdessen gibt es sieben Jahre später jetzt die Verfilmung von „Good Will Hunting“-Regisseur Gus Van Sant, der die ganze Angelegenheit längst nicht so ernstnimmt, sondern „Dead Man’s Wire“ als süffisante Krimi-Komödie mit kalkuliertem Gegen-die-da-oben-Gestus und dick aufgetragenem Siebzigerjahre-Pastiche serviert. Das ist kurzweilig genug, aber der Werner-Herzog-Version trauern wir dennoch weiter nach.

Tony Kiritsis (Bill Skarsgård) hat viel Zeit in seine Apparatur gesteckt, die als eine Art Lebensversicherung für ihn während der Geiselnahme dient.

Pinstripes

Tony Kiritsis (Bill Skarsgård) hat viel Zeit in seine Apparatur gesteckt, die als eine Art Lebensversicherung für ihn während der Geiselnahme dient.

Bill Skarsgård (Pennywise aus „ES“) ist nicht nur zehn Jahre jünger als der reale Tony Kiritsis, sondern speziell mit seinem Siebzigerjahre-Schnäuzer auch zehn Mal so sexy. Wochenlang hat er die Geiselnahme durchgeplant – und trotzdem ist es irgendwie niedlich, wie er bei der Bedienung des Funkgeräts eines gestohlenen Polizeiwagens scheitert und stattdessen immer wieder die Sirene einschaltet. Vom überwiegend abstrusen Verschwörungs-Schmarrn des Vorbilds, das im Live-TV einmal 28 Minuten am Stück herumgeschwafelt hat, ist im Film nur so viel übriggeblieben, dass ein gewisser Robin-Hood-Mythos nicht sofort in sich zusammenfällt.

Und wenn wir erstmals den von Schauspiellegende Al Pacino verkörperten Präsidenten von Meridian Mortgage sehen, der im Florida-Luxusurlaub einen Burrito zurückgehen lässt, weil er ihm halbiert statt gedrittelt vorgesetzt wurde, ist endgültig klar, auf welcher Seite man steht. Beim Abspann läuft „The Revolution Will Not Be Televised“, und das ist natürlich ironisch gemeint, nachdem Kiritsis Kleiner-Mann-Aufstand ja gerade erst dafür gesorgt hat, dass selbst John Waynes Ehren-Oscar-Dankesrede unterbrochen wurde, um stattdessen zu der Geiselnahme zu schalten. Gus Van Sant und der auch als Produzent beteiligte Bill Skarsgård halten mit ihren Sympathien also kaum hinterm Berg.

Nicht unproblematisch, aber …

Neun Jahre nach Pizzagate und neun Monate, nachdem der Pharma-CEO Brian Thompson in Manhattan auf offener Straße erschossen wurde, aber nicht wenige Sympathien anschließend eher dem fünf Tage später verhafteten Tatverdächtigen Luigi Mangione galten, ist diese Haltung zumindest mal plump, wenn nicht gar problematisch. Aber man will ja auch nicht päpstlicher sein als der Papst, gerade wo das Geschehen schon fast ein halbes Jahrhundert her ist – und dann muss man zugeben, dass man mit „Dead Man’s Wire“ auf einer oberflächlichen Ebene durchaus eine gute Zeit haben kann:

Bill Skarsgård („The Crow“) gibt wie immer alles (womit er im Vergleich zu seinem realen Vorbild immer noch zurückhaltend wirkt, wie wir bei den am Ende eingespielten Originalvideos im direkten Vergleich sehen). Oscarpreisträger Al Pacino ist in seinen sehr begrenzten Auftritten wunderbar schmierig und Colman Domingo (zuletzt zweifach oscarnominiert für „Rustin“ und „Sing Sing“) wurde mit seiner sexy-tiefen Stimme quasi dazu geboren, einen Radiomoderator zu verkörpern.

Außerdem liefert „Dead Man’s Wire“ wie zuletzt auch schon „September 5“ jede Menge Siebzigerjahre-Feeling – von der detailgetreuen Ausstattung von Büros, Wohnungen und TV-Studios bis zur längst noch nicht so professionellen Polizeiarbeit. Die zeigt sich, wenn Tony mit der selbstgebastelten, titelgebenden Apparatur einfach ganz unbehelligt die Straßen entlang und sogar durch die sich ihm hilflos in den Weg stellenden Cop-Bataillone hindurch marschiert. Das kann man schon lustig, clever oder sogar cool finden, aber so ganz verschwinden die Bauchschmerzen trotzdem nicht.

Fazit: Man hätte die Originalstory sicherlich auch ganz anders angehen können, aber wenn man sich schon für eine Wohlfühl-Krimi-Komödie entscheidet, dann macht Gus Van Sant mit „Dead Man’s Wire“ sicherlich nicht den schlechtesten Job.

Wir haben „Dead Man’s Wire“ beim Venedig Filmfestival 2025 gesehen, wo er außer Konkurrenz seine Weltpremiere gefeiert hat.