Stand: 03.09.2025 06:00 Uhr
Nava Ebrahimi verhandelt in ihren Romanen Fragen nach Identität und Fremdheit. Ihr neues Buch spielt im Dunstkreis eines Geflügelschlachtbetriebs. „Und Federn überall“ ist in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Eine fiktive Kleinstadt im niedersächsischen Emsland. In dieser Gegend gibt es nicht viel mehr als eine Massenunterkunft für Flüchtlinge und einen riesigen Geflügelschlachtbetrieb namens Möllring, der wichtigste Arbeitgeber in der Region. Ganz unten in der Hackordnung: die Mitarbeiter am Fließband, in der sogenannten Zerlegung. Unter Zeitdruck ertasten sie die Qualität der toten Tiere. 650.000 pro Tag. Ein Knochenjob. Eine der wenigen Deutschen unter ihnen ist Sonia:
Sie fühlte sich wie eine Maschine, die nichts fühlte und stumpf sortierte, für die es keinen Unterschied machte, ob verhärtete Brust oder normale. Und die sich niemals fragte, was normal war.
Leseprobe
Mit Gesa Olkusz, Jehona Kicaj, Peter Wawerzinek und Feridun Zaimoglu haben es auch norddeutsche Autor*innen unter die Top 20 geschafft.
Sechs Lebensgeschichten zwischen Hoffnung und Resignation
Mit Wucht zieht uns Nava Ebrahimi rein in die Lebensgeschichten ihrer sechs Hauptfiguren im Roman „Und Federn überall“. Menschen, die nicht werden wollten wie ihre Eltern – und es dann umso mehr wurden. Die in Jobs feststecken, die nur als Übergang gedacht waren. Die gelernt haben zu schuften und vergessen haben, wie man liebt. Etwa die alleinerziehende Sonia, der die Tochter entgleitet.
Sie hatte sie ewig nicht mehr in den Arm genommen, ihr vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen über den Kopf gestreichelt, sie liebevoll angesehen. (Sie hatte nicht einmal mehr wenigstens liebevoll an sie gedacht.)
Leseprobe
An diesem Montagmorgen stehen für alle Protagonisten große Dinge an. Zerlegerin Sonia hofft nach einem Bewerbungsgespräch am Nachmittag auf einen Jobwechsel ins Büro. Prozessoptimierer Merkhausen hat gerade eine beachtliche Summe der Firma in eine noch wackelige Automatisierungssoftware investiert, die Leute wie Sonia überflüssig machen soll. Ingenieurin Anna – eigentlich Vegetarierin – versucht bei allen Gewissensbissen, diese Software fehlerfrei zu bekommen.
Es war tatsächlich leichter, hatte sie hier festgestellt, den Tod auszublenden, wenn man nur in ausreichender Zahl von ihm umgeben war. 650.000 Tode täglich überforderte das Vorstellungsvermögen einfach, setzte es schachmatt.
Leseprobe
Ein Vorfall am Wochenende ist Stadtgespräch: Der halbblinde afghanische Flüchtling und Lyriker Nassim wurde von einem Fahrrad angefahren. Die Empörung im Ort ist groß – das könnte Nassim beim Asylverfahren helfen. Außerdem bringt dieser Unfall zufällig die Leben aller Protagonisten zusammen.
Macht, Diskriminierung und wirtschaftlicher Druck
Ebrahimi seziert die postmigrantische norddeutsche Provinz präzise und beeindruckend greifbar. Den Kosmos Schlachterei hat sie kühn und schlau gewählt: eine kalte, hierarchische, effiziente Welt. Wir lesen vom Rassismus der Alteingesessenen in der ehemaligen polnischen Enklave, vom Druck des kapitalistischen Systems, von der ungewissen Zukunft geflohener Menschen, vom Frauenhass der Chefetage.
Jede Figur sieht nur sich und verurteilt leise oder laut ihre Mitmenschen. Die Autorin erzählt aus verschiedenen Blickwinkeln. Das ist hochinteressant, manchmal entwaffnend erkenntnisreich. Nur wir Leserinnen und Leser verstehen, wer – letztlich aus gutem Grund – wie handelt. Ja, alle tragen ihr Päckchen.
Ebrahimi schreibt klar und ohne Umwege. Ihre Direktheit sitzt. Trotzdem erlaubt sie sich auch Spielereien – springt in den Zeitformen, baut Halluzinationen ein und lässt die Hühner vielleicht sogar tanzen. Ein wacher, reibungsvoller Roman, der uns ganz und gar mitnimmt.
Und Federn überall
von Nava Ebrahimi
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Luchterhand
- ISBN:
- 978-3-630-87745-7
- Preis:
- 24 €