Der Treffpunkt für die theatrale Busfahrt ist – wie könnte es anders sein – der Chemnitzer Omnibusbahnhof in Straße der Nationen. Hier steht ein blau-weißer Ikarus-Bus 280, Baujahr 1989, für die etwa dreistündige Tour durch Chemnitz bereit. Dabei werden, so erklärt es die resolute etwas exzentrisch gekleidete, Reiseleiterin dem mitreisenden Publikum, verschiedene Facetten der Stadt gezeigt: Chemnitz wird als Textilhauptstadt, als Sporthauptstadt, als Arbeiterstadt und ganz aktuell auch als Kulturhauptstadt eine Rolle spielen.

Die künstlerische Leiterin und Regisseurin des Projekts, Gabi Reinhardt, erzählt: „Das Ursprungsbild war tatsächlich: Es stehen Arbeiter*innen an einer Bushaltestelle und steigen in den Werk- oder in den Schichtbus ein.“ Über zehn Jahre ist das her und in der Zwischenzeit hat sich das anfängliche Bild modifiziert. Die theatrale Busfahrt beschäftigt sich jetzt vor allem mit weiblichen Perspektiven auf Arbeit.

Im Mittelpunkt stehe die Frage, was es bedeute als Frau, als FLINTA, zu arbeiten, erläutert Gabi Reinhardt. Und auch die Frage, was überhaupt alles Arbeit sei, werde verhandelt.

Bedeutung FLINTA
Das Akronym FLINTA steht für Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, trans und agender Personen.

Frauen aus Chemnitz erzählen ihre Geschichten

Am Karl-Marx-Monument kommt man auch in dieser Inszenierung nicht vorbei, oder, um bildlich zu sprechen, eben doch und so steigt man aus. Hinter dem riesigen Bronzekopf, unterhalb der monumentalen Schrifttafel, auf der das berühmte Zitat des Philosophen „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ steht, gibt es Programm. In einer Performance analysieren an dieser Station der Bustour zehn Frauen singend und proklamierend ihren Alltag. Sie erzählen, womit sie sich von morgens bis abends beschäftigen, was sie so alles arbeiten – nicht ohne Anklänge von Aufmüpfigkeit.

Die Textgrundlage für die theatrale Busfahrt ist in gemeinsamen Workshops entstanden, aus Gesprächen zwischen dem künstlerischen Team und Frauen unterschiedlichsten Alters, die in Chemnitz leben. Was alle diese Frauen verbindet: Sie haben keine geradlinigen Biografien, „also vor allem Arbeitsbiografien“, berichtet Regisseurin Gabi Reinhardt. „Mein Eindruck ist, dass der Großteil dieser Menschen sich immer wieder neu erfinden musste oder auch erfinden wollte.“ Sie habe bei den Frauen einen großen Antrieb gespürt, „wenn was nicht gut läuft, immer wieder nach vorn zu blicken und sich zu wandeln. Also bereit zu sein, auf was Neues zuzugehen.“

Das, was alle gemeinsam haben, ist, dass sie keine geradlinigen Arbeitsbiografien haben.

Gabi Reinhardt, Regisseurin

Industriegeschichte von Chemnitz neu erzählt

Neues ausprobieren, das lässt sich auch auf das Stück beziehen. Denn die meisten Frauen standen zuvor noch nie auf einer Bühne beziehungsweise vor Publikum. Ihre Rollen müssen sie aber auch nicht zwangsläufig spielen, denn vieles ist für die Frauen Alltag. Zum Beispiel wenn sie an der Station im Sächsischen Textilforschungsinstitut wie Getriebene bis zur Erschöpfung hin- und herhetzen, während im Hintergrund die Webmaschinen den Takt dazu angeben.


In einem Wohngebiet wird eine Balkonszene aufgeführt. Hier wird nochmal an die erste Station und Karl Marx beziehungsweise seine Frau Jenny Bezug genommen. „Trotz ihrer unverzichtbaren Leistungen weiß niemand, wer Jenny, eine geborenen von Westphalen und Ehefrau von Karl Marx, war“, heißt es in der Szene. Auch wenn beide nie in Chemnitz waren, zur Arbeiterstadt passt diese Konstellation allemal, findet Theatermacherin Gabi Reinhard: „Das ist der Punkt: Was wird eigentlich erzählt, wenn wir von der Arbeiterstadt Chemnitz sprechen?“ Es gehe immer um Industrie, die Industriekultur und die Industriegeschichte, und „natürlich haben unfassbar viele Frauen diese Industriekultur mit aufgebaut, aber sie werden viel zu wenig gesehen.“

Das will das Theaterprojekt ändern. Im Ikarus-Bus geht es quer durch die Stadt, man entdeckt neue Orte und trifft dort auf Frauen, die mehr Wertschätzung für sich einfordern. Das wiederum ist nicht neu, kann offenbar aber nicht oft genug wiederholt werden.