Ach ja, das Geschäft mit den Literaturverfilmungen. Auf manche wartet man vergebens, nicht selten, weil die Vorlage wegen einer monumentalen Breite und Komplexität oder einem antidramatischen, introspektiven Modus als unverfilmbar gilt.

Und dann gibt es Romane, deren filmische Übersetzung sich bereits bei der Lektüre auf die Netzhaut brennt und es nur noch um die Frage geht: Wann ist es soweit? So zum Beispiel bei Caroline Wahls Debütroman „22 Bahnen“, Der stand auf allen deutschen Bestsellerlisten ganz oben, hat Preise abgeräumt, war „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023“ und „Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2024“ und bringt auch sonst alles, aber wirklich alles für eine Verfilmung mit: eine tragische, aber niemals in die Tragödie kippende Geschichte, eine Heldin, die alltäglich und zugleich exzentrisch genug ist, um viele abzuholen, ein universelles Beziehungsdreieck mit Tücken (Heldin, junge Schwester, alkoholkranke Mutter) und eine zart sich anbahnende Liebe.

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Und das alles wird erzählt in einer einfachen, direkten und zugleich sehr visuell gearbeiteten Sprache. Verfilmungsjackpot! „22 Bahnen“ erzählt lebensbejahend eine von Traumata begleitete Emanzipationsgeschichte von der eigenen Mutter, der eigenen Vergangenheit und dem kleinstädtischen Kaff.

Ordnungsliebende Mathematikerin, von Chaos umgeben

Die Heldin Tilda hat Mia Maariel Meyer mit Luna Wedler besetzt. Tilda steht am Ende des Mathematikstudiums, das sie wegen außergewöhnlicher Begabung mit wenig Anwesenheitszeit absolviert, während sie sich zuhause um ihre kleinere Halbschwester Ida (Zoë Baier) und um ihre Mutter Andrea (Laura Tonke) kümmert, eine arbeitslose Alkoholikerin.

Dass die Wohnung in der Fröhlichstraße liegt, ist schon in der Romanvorlage einer der vielen frontalen Metakommentare. Ebenso wie die Tatsache, dass Tilda täglich im Freibad ihre zweiundzwanzig Bahnen zieht: die geordnete Primetime der ordnungsliebenden Mathematikerin, von Chaos umgeben. Bei Nieselregen kommt auch Ida gerne mit ins Schwimmbad.

Größer wird das Chaos, als Tildas Professor ihr eine Promotionsstelle in Berlin in Aussicht stellt. Was soll mit Ida passieren? Mit der Rückkehr von Viktor (Jannis Niewöhner), den Tilda, das zeigt der Film in einer schönen Szene ausgiebig, mit großen Augen im Schwimmbad beobachtet, wird es noch komplizierter, denn mit ihm bricht auch die tragische Vergangenheit von dessen jüngerem Bruder Ivan (Kosmas Schmidt) buchstäblich über Tilda herein; der war für sie einmal ein Schulfreund.

Für komplexe Sozialdramen bekannt

Die Regisseurin Meyer hat sich mit komplexen Sozialdramen einen Namen gemacht. Im Debüt „Treppe aufwärts“ erzählte sie von einem Spielautomaten-Zocker; „Die Saat“ folgte einem aufstrebenden und aufrechten Handwerker bis auf den niederschmetternden Boden der Tatsachen, und zu beidem passt der sozialkritische Blick auf den Alltag in „22 Bahnen“: Tilda muss nebenbei im Supermarkt jobben, um ihr Leben und das von Ida zusammenzuhalten, und wenn das Geld mal wieder nicht reicht, kocht sie Fake-Mirácoli-Spaghetti. Auf die härteste Probe wird das Zusammenleben durch die Sucht der Mutter gestellt; Altglasflaschen stapeln sich, und einmal fackelt die desolate Frau fast die Wohnung ab. Ein anderes Mal findet Ida sie im Benzo- und Wodkarausch auf dem Boden und ruft den Notarzt; eine Szene, in der sich die Narben der Kinder, die viel zu früh erwachsen werden mussten, manifestieren.

Man wünscht sich mehr solcher Momente in dieser Verfilmung, die in vielerlei Hinsicht auf Nummer sicher geht. Zwischendurch ordnet eine Off-Erzählerinnen-Stimme das Geschehen ein, (teils seltsame) Backflashs sollen das psychologische Fundament verstärken, Filmmusik schreibt vor, was gefühlt werden soll.

Meyer spielt so souverän wie erwartbar auf der Standardliteraturverfilmungsklaviatur. „22 Bahnen“ wird die Fans der Vorlage abholen und die Kinosäle füllen.

Dass der Song „Durch den Monsun“ der Popmusik-Band Tokyo Hotel die Ereignisse des Films leitmotivisch begleitet, bindet die Schicksale der Frauen als Sturmerfahrung zusammen und stellt einen indirekten Bezug zu Carolin Wahls „Windstärke 17“ her, einem Spin-Off-Buch zu „22 Bahnen“, in dem sie die Geschichte von Ida weitererzählt. Auch dieser Text ist ein Bestseller geworden, der neueste, „Die Assistentin“, wird sicher einschlagen. Weitere Verfilmungen stehen bevor.