Isernhagen H.B./Hannover. Wenn man auf der Homepage und Flyern liest, was Andrea Meyer (61) mit ihrem Verein „Glücksmomente“ so macht, kommt das recht theoretisch daher: „Mit unserem Projekt unterstützen und begleiten wir Kinder und Jugendliche in akut schwierigen Lebenssituationen ganzheitlich mithilfe unserer Pferde.“ Doch in der Praxis wird daraus eine emotionale Achterbahnfahrt, die tief berührt.
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Ein Beispiel ist das von Hanna. Das Mädchen aus dem hannoverschen Stadtteil Bothfeld ist fünf Jahre alt, als Ärztinnen und Ärzte im Sommer 2020 einen Gehirntumor in ihrem Kopf entdecken. Es folgen Operationen, Chemotherapien – und eine professionelle wie liebevolle Zeit bei „Glücksmomente“ in Isernhagen. „Sie kam regelmäßig, immer mittwochs, oft trotz Übelkeit“, erzählt Andrea Meyer. Ihr Lieblingspferd – eins von sieben – hatte Hanna schnell ausgemacht. Vor allem mit Bella verbrachte sie viel Zeit.
Trost durch Pferde – und die Äppel
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„Hanna war unsere Äppel-Königin“, erinnert sich Lisa Krüger (36), die mit Mama Andrea den 2012 gegründeten Verein leitet. Das kam nicht nur den Pferden zugute, sondern auch dem kranken Kind. Denn an ihren „Wut-Tagen“, wenn Hanna mit den „Wichten in ihrem Kopf“, wie sie zu sagen pflegte, ins Hadern kam, stand sie am Zaun der Koppel, schmiss die Pferdeäppel so weit sie konnte und schrie sich ihren Ärger aus dem kleinen Leib.„Wir unterdrücken keine Gefühlsausbrüche. Die müssen raus“, betont Krüger, selbst zweifache Mutter.
Krankheit, Todesfälle, sexueller Missbrauch
Das ist ein Grundsatz des Vereins mit Sitz in Isernhagen H.B.: Er bietet einen geschützten Raum, in dem die Kinder und Jugendlichen von all dem erzählen können, was sie bedrückt und beschäftigt. Bewertet wird von den „Glücksmomente“-Macherinnen nicht. Inhaltlich sind Themen dabei, die man keinem Menschen wünscht – schon gar nicht den Kleinsten und demnach häufig Schwächsten der Gesellschaft: schwere Erkrankungen, Todesfälle von Geschwistern und Eltern, traumatische Erlebnisse infolge sexuellen Missbrauchs. „Jedes Kind bringt seine eigene Geschichte mit“, so Meyer.
Aktuell kommen 40 Mädchen und Jungen auf das an Meyers Privathaus grenzenden Gelände. Von Montag bis Freitag verbringen sie in kleinen Gruppen zwei Stunden fernab ihrer problematisch-prekären Welt, sobald sie die Zaubertür durchschritten haben. Da warten Pferde, Therapiehund Lucky, zwei puschelige Hasen und ein liebevoll gestaltetes „Glücksmomente“-Haus in einer ehemaligen Pferdebox: Darin können sie basteln, kneten und malen, Bücher lesen, sich austauschen. Unaufdringlicher Hingucker ist ein Holzelement, an dem ein weißer Traumfänger und Fotos hängen. Fotos von „Glücksmomente“-Menschen, die gestorben sind.
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Eines davon zeigt Hanna. Dreieinhalb Jahre war sie dabei. Trotz anfänglicher Hoffnung, sie könnte die schlimme Krankheit besiegen, streute der Krebs, ihr Zustand verschlechterte sich. „Hanna, warte bloß auf mich!“, hoffte Andrea Meyer inständig, als sie während einer kurzen Auszeit auf Sylt die Nachricht bekam, Hanna werde nun palliativ behandelt. Zurück zu Hause besuchte die 61-Jährige die Familie in Bothfeld, auch Lisa Krüger war dabei.
Schokolade am Sterbebett
Meyer brachte ein Überraschungsei mit, obwohl sie wusste, dass Hanna kaum noch aß und viel schlief. „Ich habe sie angestupst“, erinnert sich die „Glücksmomente“-Frau an jenen Tag. Das Mädchen reagierte und verlangte, wie immer bestimmt, die Schokolade: „Sie war ein besonderes Kind, sehr geradeaus. Und die Schokolade war das Letzte, was sie gegessen hat.“ Etwa zwei Stunden nach ihrem Besuch ist Hanna gestorben, am 18. Oktober 2024 im Alter von nur neun Jahren.
Wir gratulieren und finden, dass es endlich die Anerkennung gibt, die ihr verdient.
Mutter des verstorbenen „Glücksmomente“-Mädchens Hanna
„Es war eine Ehre, in diesem intimsten und schlimmsten Moment dabei sein zu dürfen“, resümiert Andrea Meyer. „Auch für uns ist es ein wichtiger Prozess, das zu begleiten.“ Ihre eigene Erfahrung spielt eine Rolle: Auch Andrea Meyer und ihr Ehemann Lutz haben ihr erstes Kind, Victoria, verloren, vier Wochen nach der Geburt. „Eltern wissen, dass ich ihren Schmerz kenne.“ Hannas Eltern freuen sich, dass Meyer in diesem Jahr das Bundesverdienstkreuz bekommt: „Wir gratulieren und finden, dass es endlich die Anerkennung gibt, die ihr verdient. Ihr wart eine große Stütze, danke von Herzen“, schrieb Hannas Mutter.
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Wie viele Kinder wie Hanna in den vergangenen Jahren bei „Glücksmomente“ Trost fanden, wissen die Macherinnen gar nicht so genau – und es interessiert sie auch nicht. „Für mich ist ein Kind genug, um zu rechtfertigen, was wir tun“, so Meyer. Das sieht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (69) offenbar genau so, er zeichnete die 61-Jährige aus.
Feierstunde im Haus der Region Hannover
Den Orden überreichte ihr Ute Lamla (69) während einer Feierstunde am 2. September im Regionshaus: „Was Sie tun, geht weit über das Pensum des Ehrenamts hinaus“, betonte die stellvertretende Regionspräsidentin. Von Familie, Freundinnen und Freunden sowie Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern und Isernhagens Bürgermeister Tim Mithöfer (51) gab es viel Applaus. Meyer: „Und ich bin wirklich stolz, diese Anerkennung rührt mich sehr.“
NP