Die ersten Betten sind schon verschwunden, plötzlich wirken die gewaltigen Hallen größer als je zuvor. Wo monatelang mehr als 5000 Menschen Schulter an Schulter lebten, bleibt jetzt vor allem: Leere. Stimmen hallen, Schritte klingen nach, und zwischen den verbliebenen Metallgestellen leben nur noch 1814 Flüchtlinge. Aktuell sind hier 2958 Betten frei. Sie werden nach und nach abgebaut.

Bis Jahresende soll alles vorbei sein. Dann, so die Planung, wird das Ankunftszentrum nicht mehr existieren, nur noch als Fußnote in den Akten der Verwaltung – und in den Erinnerungen derer, die hier ihre erste Zeit in Deutschland verbrachten. Die Geflüchteten sollen künftig dezentral untergebracht werden, über die ganze Stadt verteilt.

Während die Hallen sich leeren, entsteht andernorts Neues: Auf Baustellen in Randlagen der Stadt entstehen weiter Containerdörfer. Zweckbauten mit weißen Wänden, Doppelstockbetten, schmalen Fluren. Provisorien, die längst Teil des urbanen Dauerinventars geworden sind – und doch als Übergangslösung deklariert bleiben.

Eine Transsexuelle hat vier Betten für sich allein

Tegel – ein Name, der über Jahre hinweg Schlagzeilen machte. Ein Ort, der zum Synonym wurde für das größte Flüchtlingsghetto der Republik, für gescheiterte Konzepte und explodierende Kosten, die sich auf bis zu 500 Millionen Euro pro Jahr summierten. Berichte über ruppige Security-Mitarbeiter machten ebenso die Runde wie Klagen über die totale Abwesenheit von Privatsphäre.

Heute wohnt Dina Golovkov allein in einer Zelle mit vier Betten. Die Transsexuelle aus Kiew hat ihre Sachen bereits gepackt. Mitte September wird sie umziehen. An den Columbiadamm in eine neue Unterkunft. Sie guckt das auf dem Handy nach. Ein altes Modell, für das sie sich entschuldigt. Zwei neuere Handys seien ihr geklaut worden: „In der Ukraine gibt es viele Diebe“.

Auf gepackten Koffern: Dina Golovkov in ihrem Vier-Bett-Zimmer

Auf gepackten Koffern: Dina Golovkov in ihrem Vier-Bett-ZimmerMaurice Weiss/Ostkreuz

Erwartungen an den Umzug? Golovkov schüttelt nur leicht den Kopf, zieht die Schultern hoch und lächelt verlegen, als wolle sie sich für ihre eigene Gleichgültigkeit entschuldigen. Hoffnung klingt anders. Hier im Lager ist diese Mischung aus Schicksalsergebenheit und Lethargie längst zur Grundhaltung geworden. Viele scheinen verlernt zu haben, sich noch etwas zu erhoffen.

Manche von ihnen leben seit Jahren hier, gefangen in einer Warteschleife. Sie verlassen das Gelände nur selten, erzählen Bewohner. Zu viel Zeit zum Grübeln, zu viele Gedanken, die sich immer wieder im Kreis drehen. Viele, sagt eine Ukrainerin, lebten längst mehr in ihrer Vergangenheit als in der Gegenwart. Wenn sie überhaupt hinausgingen, dann meist nur bis zum nächsten Supermarkt – einem Discounter, der gleich hinter den Mauern des Flughafengeländes liegt.

Tegel wirkt wie eine eigene Stadt. Mit Straßennamen, Kantine, Sicherheitskontrollen – und sogar einer Buslinie. Wer in die Zeltstadt will, steigt an der S-Bahn-Station Jungfernheide ein. Eine ganz normale Haltestelle, doch der Bus, der dort hält, ist alles andere als normal: Nummer und Abfahrtszeiten sind handschriftlich auf einen Zettel gekritzelt. Es hat etwas von Geheimtür, von Übergang in eine andere Welt – wie das Gleis 9¾ in den „Harry Potter“-Romanen. Nur dass die Welt dahinter keine Zauberwelt ist, sondern eine aus Containern und Leichtbauhallen.

Der Bus bringt die Passagiere durch alle Sicherheitsschleusen direkt vor die Ankunftshalle in der Zeltstadt. Bei dieser Halle handelt sich um einen Erweiterungsbau, der, als der Flughafen noch in Betrieb war, für Air Berlin errichtet wurde. Später starteten und landeten hier vor allem Billigflüge von Easy Jet. Der Sicherheitscheck ist heute so ähnlich wie damals: Taschen werden durchleuchtet, es gibt Metalldetektoren. Es gibt hier auch ein Café. Der Kaffee ist deutlich günstiger als zu Flughafenzeiten. Einen Euro kostet der Becher.

Vor allem bleibt Leere: Wachhäuschen auf dem Gelände der Unterkunft

Vor allem bleibt Leere: Wachhäuschen auf dem Gelände der UnterkunftMaurice Weiss/Ostkreuz

Auf dem zugewucherten Rollfeld vor der Ankunftshalle steht Natalija Gonak (73) in der Sonne. Sie lacht, hat keinerlei Beschwerden vorzubringen. Findet auch nichts besonders toll. Geflüchtet ist sie aus Uschgorod, einer Stadt mit gut 100.000 Einwohnern im Südwesten der Ukraine, die vom Krieg bisher weitgehend verschont geblieben ist. Auch sie wird demnächst umziehen. Ziel noch unbekannt.

Dass die Flüchtlinge über die Stadt verteilt werden, läuft seit Monaten. Vergangenes Jahr zogen bereits viele in das City-Hotel Berlin East an der Landsberger Allee, dort gibt es allein 1200 Plätze. Die Zimmer sind komfortabel, allerdings hapert es an der Beschulung der Kinder.

In den Ostbezirken entstehen seit Jahren die meisten Unterkünfte

Als das City-East-Hotel zur Unterkunft für Flüchtlinge umgewidmet werden sollte, regte sich in der Nachbarschaft heftiger Widerstand. Viele Ost-Berliner empfanden es als erneute Zumutung, dass gerade in den östlichen Bezirken seit Jahren die meisten Unterkünfte entstehen. Ein unausgesprochener Groll, gespeist aus dem Gefühl der einseitigen Belastung. Nicht der einzige Unmut in der Stadt.

Demnächst werden neue Unterkünfte in der Grünauer und der Potsdamer Straße in Betrieb gehen. Auch auf einen Parkplatz am Britzer Garten sollen, trotz Protesten der Anwohner, Container für Flüchtlinge gestellt werden.  Womöglich wird Berlin auch noch von einem Großprojekt überrascht werden, heißt es geheimniskrämerisch aus der Senatsverwaltung. Alle übrigen Flüchtlinge aus Tegel sollen auf freie Plätze in den 125 Unterkünften verteilt werden, die es in Berlin gibt. Eine besondere Herausforderung ist der hohe Anteil von Rollstuhlfahrern oder Leuten, die auf Rollatoren angewiesen sind. Jeder Vierte braucht eine barrierefreie oder wenigstens barrierearme Wohnung.

War Projektmanager in der Stadtverwaltung: Dmytrii (26) aus Chernihiv.

War Projektmanager in der Stadtverwaltung: Dmytrii (26) aus Chernihiv.Maurice Weiss/Ostkreuz

Containerdörfer sind dafür gut. Eines steht am Columbiadamm. Das liegt auf dem Gelände des früheren Flughafens Tempelhof. Es ist die neue Bleibe für die Transsexuelle Golovkov, die gerade in Tegel ihre Koffer gepackt hat.

In den vergangenen Tagen gab es in Tegel auch noch einige Neuankömmlinge, darunter ein paar Dutzend junge Männer aus der Ukraine. Neuerdings dürfen auch Wehrpflichtige ausreisen. Nicht jeder taugt zum Kriegshelden.

In einem Zelt, das für Freizeitaktivitäten bereitsteht, zockt ein junger Ukrainer an seinem Laptop. Dmytrii heißt er, ist 26 Jahre alt und vor sechs Wochen angekommen. Er lernt Deutsch und wartet auf seine Dokumente. Die Bearbeitung von Anträgen soll hier fixer gehen als außerhalb der Zeltstadt, hat er gehört. Darum wartet er nun erst mal ab.

Dmytrii hat ein realistisches Bild vom Arbeitsmarkt, das ist eher die Ausnahme

Vor seiner Flucht war er Projektmanager in der Stadtverwaltung von Chernihiv. Diese Stadt im Nordosten ist heute eindeutig Kriegsgebiet. Dmytrii wird in Deutschland nicht in seinem früheren Job arbeiten können, da ist er realistisch. Bleiben will er dennoch. Mit seiner Nüchternheit steht er in Tegel allerdings eher allein. Viele andere halten an glänzenden Vorstellungen fest, malen sich das Leben in Deutschland noch immer in den schönsten Farben aus. Sie träumen von ruhigen Büroarbeiten, von Selbstständigkeit, von Selbstverwirklichung – Bilder, die mit der Realität des hiesigen Arbeitsmarkts oft nur wenig gemein haben.

Diese Traumwelten sind Überlebenshilfe im eintönigen Lageralltag – und zugleich Symptom einer Fehlkonstruktion, die längst als solche erkannt ist. Statt Geflüchtete so rasch wie möglich in Arbeit zu bringen, zwingt das System sie zunächst in endlose Sprachkurse. Erst ein bestandener Test eröffnet die Aussicht auf einfache Hilfstätigkeiten. Eine Hürde, die viele für völlig überflüssig halten.

Halle mit entferntem Bodenbelag am Rande der Massenunterkunft

Halle mit entferntem Bodenbelag am Rande der MassenunterkunftMaurice Weiss/Ostkreuz

Ein Teufelskreis: Während sich die Leute in Sprachkursen herumquälen, gewöhnen sie sich an die Vorzüge der Grundversorgung. Der Tatendrang, mit dem sie angekommen sind, versiegt. Die Grübelei fängt an, eine Integration rückt in immer weitere Ferne. Dass diese Herangehensweise falsch ist, ist mittlerweile Konsens. Politische Konsequenzen lassen noch auf sich warten.

An diesem Nachmittag wirkt Jewgenija (34) müde, fast gereizt. Ihr neun Monate alter Sohn Sachar hingegen strahlt, so als wolle er mit seinem Lachen die Schwere seiner Mutter überspielen. Vor gut einem Monat sind die beiden aus Kiew geflohen, seither leben sie in Tegel. Bis Dezember, schätzt Jewgenija, werden sie hierbleiben – vielleicht auch kürzer, vielleicht länger. Es ist ihr ziemlich egal.

Für das Leben in der Zeltstadt hat sie nur wenige Worte: „Das Essen ist nicht so gut.“ Und: „Alle Leute sind verschieden.“ Mehr muss sie nicht sagen, um die ständige Reibung im Zusammenleben zu beschreiben – die Enge, die Unruhe, das Fehlen jeder Privatsphäre. Pläne für die Zukunft? Keine. Sie zuckt mit den Schultern. Dann sammelt sie sich, richtet sich auf und sagt den Satz, den hier fast alle sagen: „Deutsch lernen, um zu arbeiten.“ Als was? „Office Manager“, antwortet sie knapp.

Die Zelte sollen in Tegel durch Container für Flüchtlinge ersetzt werden

Dass Tegel bald schließt, berührt sie kaum. Für die Stadt ist es das Ende eines Provisoriums, das nie für Jahre gedacht war. Für Jewgenija ist es nur eine weitere Station in einem Leben, das längst aus Übergängen besteht. Während Berlin Abschied nimmt von einem Lager, das in den Schlagzeilen berüchtigt wurde, bleibt für sie entscheidend, was danach kommt – und das weiß sie selbst noch nicht.

Aus der Welt ist die Massenunterkunft allerdings nicht. Auch im kommenden Jahr sollen Geflüchtete weiter auf dem Rollfeld von Tegel untergebracht werden – diesmal in einem Containerdorf. Doch nur vorübergehend, so das Versprechen. Geplant ist ein Verteilzentrum, ein Drehkreuz, das Menschen aufnehmen und rasch weiterleiten soll. Genau so hatte es im März 2022 begonnen: mit provisorischen Schaltern im sechseckigen Terminal, wo Ankommende registriert und anschließend in Bussen durchs Land geschickt wurden.