Publiziert4. September 2025, 04:36

Ernährung: Denkst du ständig ans Essen? Dann leidest du an Food Noise

Denkst du ständig ans Essen – oder daran, es zu lassen? Dieses Gedankenkarussell heisst Food Noise. Wie Social Media das Problem verstärkt und du die innere Stimme leiser stellst.

Gloria Karthan

«Lieber keine Milch in den Kaffee, das ist ungesund.» … «Aber Hafermilch hat so viel Zucker – und die Glukosespikes!» … «Gilt das überhaupt als Intervallfasten, wenn ich Kaffee trinke?» … «Zum Zmittag gibts heute einen Salat, abends gehts ja noch ins Resti.» … «Über den Salat müssen dann noch Leinsamen, wegen der Ballaststoffe.» … «Ich esse wieder viel zu wenig Proteine, muss noch Hüttenkäse kaufen. Oder Poulet?»

… hörst du manchmal eine innere Stimme, die so ähnlich klingt und dich dann ganztags begleitet? Dann könntest du an Food Noise leiden. Der Begriff beschreibt das diffuse Gefühl, dass sich immer alles ums Essen dreht – oder eben ums Nichtessen. Zwar gibt es keine Studien, die explizit Food Noise im Alltag untersuchen. In experimentellen Untersuchungen zeigte sich jedoch: Betroffene richten rund 30 bis 40 Prozent ihrer spontanen Gedanken aufs Essen, während es bei gesunden Kontrollpersonen weniger als 10 Prozent sind.

Versagensgefühle wegen Social Media

Das Phänomen sei für Fachpersonen und Betroffene von Essstörungen nicht neu, wie Psychologin und Ernährungsberaterin Sarah Stidwill erklärt. «Den Begriff kennen wir auch im Zusammenhang mit der Abnehmspritze – viele berichten, dass der Lärm rund ums Essen damit abnimmt.» Durch Social-Media-Trends wie Skinnytok erlebt der Begriff aktuell Aufwind – auf Tiktok und Instagram erzählen viele junge Menschen, wie sie täglich Food Noise erleben und was ihnen hilft.

«Einerseits begrüsse ich es, dass man Tabus bricht und über das Thema spricht», sagt Stidwill. Betroffene entlaste es, wenn sie sehen, dass auch andere solche Gedanken kennen. Gleichzeitig könne es aber auch kippen: «Dieses Gefühl von ‹Ach, diese Gedanken haben ja alle› kann auch uminterpretiert werden – so, dass man denkt: ‹Da muss ich einfach durch.›» Und das sei nicht gut.

Privat

Sarah Stidwill ist Psychologin und Ernährungsberaterin FH und berät Betroffene und deren Bezugspersonen bei der AES, der Arbeitsgemeinschaft für Essstörungen.

Durch Social Media und den damit verbreiteten Optimierungswahn habe die Thematik zugenommen. «Wir haben mehr Möglichkeiten, uns zu vergleichen und denken, dass es bei allen vermeintlich grossartig läuft. Manche schauen ein ‹What I eat in a day›-Video oder sehen eine perfekt hergerichtete Bowl und spüren direkt Versagensgefühle.» Je tiefer man in die Bubble reingezogen werde, desto wahrer werden diese Gedanken.

Wer den Pizzaabend absagt, sollte hellhörig werden

Wenn ein Grossteil der Gedanken sich ums Essen drehe, habe man keine Kapazität mehr, an andere Dinge zu denken – etwa soziale Kontakte, den Job oder die Schule. Hier sollte man laut der Expertin hellhörig werden: «Mealprep etwa ist eine tolle Sache. Aber wenn man jeden Abend alleine zu Hause verbringt, weil man Mahlzeiten planen und zubereiten muss, dann kippt es.»

Wer intuitiv isst, habe abends automatisch weniger Hunger, wenn das Zmittag mal gross ausgefallen ist. «Heikel wird es, wenn man abends von Freunden in die Pizzeria eingeladen wird und absagt, weil man mittags schon einen Teller Pasta hatte.» Trotzdem könne es hilfreich sein, sich bewusst zu fragen: Warum will ich jetzt essen? Weil ich Hunger habe? Weil es lecker ist? Oder weil ich traurig bin, mich motivieren will oder Stress habe?

Das hilft dir gegen Food Noise

Expertin Sarah Stidwill teilt vier Tipps, die helfen, dass die Stimme in deinem Kopf ruhiger wird:

Regelmässig essen: «Dann merkt der Körper, dass immer etwas kommt und ich nicht auf Vorrat essen muss.»

Keine Verbotslisten führen: «Wichtig ist, dass man sich auch mal etwas gönnt, was man lecker findet.»

Reflektieren: «Man sollte sich mal überlegen, welche Lebensmittel man mit Labels wie gut oder böse versieht oder ob man nach dem Essen Scham empfindet.»

Darüber reden: «Wenn Freunde die Portion kommentieren mit «Was, das isst du alles?» oder ständig übers Essen reden, macht das etwas mit einem. Sind einem diese Kontakte wichtig, sollte man das Thema ansprechen.»

Essen in Gut und Schlecht einteilen

«Bewegung ist generell gut und gesunde Ernährung ist wichtig, darüber sind wir uns in unserer Gesellschaft alle einig.» Das Problem sei das extreme Schwarz-Weiss-Denken und die damit verbundenen Schuldgefühle. «Wenn ich nie einen Muffin esse, obwohl ich so gerne einen essen würde, dann ist das auch nicht gesund. Wenn ich mir einen Dessert immer wieder verbiete, ist das ungesünder, als wenn ich einmal einen esse und ihn geniesse.»

Schon im Laden beginnt das Grübeln: Was ist «gesund» und was nicht?

Schon im Laden beginnt das Grübeln: Was ist «gesund» und was nicht?

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Das Gleiche gelte für Begriffe wie «sündigen» im Zusammenhang mit Essen: «Das hat schon fast eine religiöse Komponente.» Essen bekomme dadurch einen moralischen Wert – Lebensmittel werden in Gut und Schlecht eingeteilt. Wer ungesund isst, hat schnell das Bedürfnis, es mit etwas «Gesundem» auszugleichen.

Männer und Frauen kennen Food Noise

In der AES-Beratungsstelle meldeten sich zwar mehr Frauen als Männer, aber beide Geschlechter kennen das Phänomen. Es sei immer die Frage: Reden Frauen einfach mehr darüber? «Bei Männern dreht sich die Stimme vielleicht eher um Clean Eating, Eiweiss und Muskelaufbau, bei Frauen geht es eher darum, schlank zu sein und kontrolliert zu essen.» Die Gedanken im Hintergrund seien aber die gleichen.

«Wichtig ist, dass man sich auch mal etwas gönnt, was man lecker findet», rät die Expertin.

«Wichtig ist, dass man sich auch mal etwas gönnt, was man lecker findet», rät die Expertin.

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Manche Betroffene haben zwar Food Noise und ein schlechtes Gewissen, schränken sich aber gar nicht ein. Ist das dennoch schon problematisch? «Man sollte auch hier schon intervenieren, um schädliche Muster zu durchbrechen», so die Expertin. Immer wieder gebe es Patientinnen und Patienten, die unsicher seien, ob sie überhaupt Hilfe benötigten. «Im Zweifelsfall lässt man sich lieber beraten – man muss deswegen ja nicht gleich eine Therapie beginnen.» Wenn man ständig sein Verhalten beurteile, lernt das Gehirn mit. «Was wir häufig machen, verfestigt sich mit der Zeit. Das Risiko, dass diese Gedanken stärker werden und man in eine Essstörung kippt, ist da.»

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