Stand: 03.09.2025 13:36 Uhr
Mascha Schilinskis Film über vier Mädchen, die zu unterschiedlichen Zeiten am selben Ort gelebt haben, hat beim Festival in Cannes den Preis der Jury gewonnen – und geht nun auch als deutscher Beitrag ins Oscar-Rennen.
Ein totes Mädchen mit strengen blonden Zöpfen und schwarzem Kleid sitzt auf einem Canape. Die Fotografie ist verschwommen. Ein Totenbild – wie aus dem Gruselfilm „The Others“. Doch für die Mädchen, die sich neugierig davor aufgestellt haben, gehört so etwas zum Alltag.
– Wer ist das Mädchen?
– Das ist Alma. Sie sieht aus wie du. Vielleicht ist ja ihr Geist in dich übergegangen.Filmszene
Das fragende Mädchen sieht tatsächlich aus wie die Tote – wie ihre Schwestern auf Plattdeutsch behaupten -, und sie heißt auch so: Alma. Die Idee, dass auch sie sterben muss, lässt die lebendige Alma von nun an nicht mehr los. Und der Tod ist immer da. Alma lebt zur Zeit des Ersten Weltkrieges auf einem Vierseitenhof in der Altmark, einer bis heute abgelegenen Region im nördlichen Sachsen-Anhalt. Sie erlebt alles um sich herum mit fiebriger Intensität.
„In die Sonne schauen“ erzählt aber auch von drei weiteren Mädchen, die ebenfalls an diesem Ort leben, jedoch nicht zur selben Zeit. Zum Beispiel Angelika, eine Teenagerin in den 80er-Jahren in der DDR. Ihr Onkel, der ihr das Schwimmen beibringt, wirft ihr begehrliche Blicke zu. Ihr Cousin tut es ebenso. Angelika fühlt sich in die Enge getrieben, während sie zugleich ihr eigenes sexuelles Erwachen erlebt.
Assoziative Erzählweise voller Erinnerungen und Stimmen
Inspiriert wurde der Film durch eine Fotografie von vor 100 Jahren, erzählt Regisseurin Mascha Schilinski. Sie und ihre Co-Autorin Louise Peter fanden das Bild von drei Frauen an ihrem späteren Drehort: „Die stehen mitten auf diesem Hof, umringt von Hühnern, und gucken direkt in die Kamera. Das ist überhaupt nicht inszeniert oder gestellt, sondern aus der Bewegung heraus. Dieser Blick von diesen drei Frauen, die auch im unterschiedlichen Alter waren, hat uns total berührt, weil es dieser Blick durch die vierte Dimension war und uns direkt angeblickt hat.“
Durch ihre Blicke stehen die Film-Protagonistinnen miteinander in Verbindung. Es ist, als ob sie durch die Zeit hindurchblicken. Erzählt wird nicht chronologisch, sondern momenthaft und assoziativ. Es ist ein Strom von Bildern, in dem auch Gedanken auftauchen, unterschiedliche Stimmen, Erinnerungsfragmente. Aus der subjektiven Wahrnehmung wird eine intersubjektive Erzählung. Und wie das montiert ist, hat eine berauschende Wirkung. Dabei ist es nicht nur das große Thema der Vergänglichkeit, das der Film auf so sinnliche wie unkonventionelle Weise abbildet. „Es geht in dem Film auch darum, welchen Blicken Frauen ein Jahrhundert lang unterworfen sind“, sagt Schilinski. „Und die Frauen in diesem Film blicken auch zurück.“
Beim Filmfest Cannes kam Mascha Schilinskis Film mit einem Lübecker in einer Nebenrolle gut an – nun setzte er sich in der deutschen Vorauswahl durch.
Wie Vergangenheit das Heute beeinflusst
Erfahrbar wird dabei auch, wie sich das Leben auf dem Hof innerhalb von hundert Jahren verändert. Hier der strenge, geregelte Arbeitsalltag einer bäuerlichen Großfamilie in der Alma-Geschichte, dort eine Berliner Bohème-Familie, die den verlassenen Ort heute entdeckt, um sich eine Art Bullerbü daraus zu machen.
Doch die Ahnen sind auf ihre Weise präsent. Nicht als Gespenster. Doch ihre Erfahrungen und Traumata haben sich dem Ort eingeprägt, steuern das Verhalten derer, die folgen – sogar über Familienbanden hinaus. Von einem Schmetterlingseffekt spricht Mascha Schilinski, wo ein Flügelschlag reicht, um eine Kettenreaktion anzustoßen.
Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“ geht ins Vorrennen für die Oscars. Dabei kam die Regisseurin eher zufällig zum Film.
„In die Sonne schauen“ bildet eine kollektive, vielleicht auch metaphysische Erfahrung ab. Es ist der bemerkenswerte Versuch, das Kino von alten Erzählformen zu entstauben, zugunsten eines Erzählens, das mehr der Erinnerung und dem Traum ähnelt. Die Welt hinterlässt ihren Abdruck auf der Netzhaut.
In die Sonne schauen
- Genre:
- Drama
- Produktionsjahr:
- 2025
- Produktionsland:
- Deutschland
- Zusatzinfo:
- mit Hanna Heckt, Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler und anderen
- Regie:
- Mascha Schilinski
- Länge:
- 149 Minuten
- Altersempfehlung:
- ab 16 Jahren
- Kinostart:
- 28. August 2025