Eine Stadt hinter einer Mauer, vom Ozean umschlossen. Mutiertes Gras, das die Herrschaft übernimmt. Ein alternatives queeres Berlin der 1920er-Jahre. Cyborg-Wölfe im Forst. Berlin taugt bestens als Schauplatz phantastischer Literatur. Was die Hauptstadt an Science-Fiction und Fantasy-Geschichten zu bieten hat.
Wächst über Berlin irgendwann Gras wie derzeit auf der alten Siemensbahn? Foto: Imago/Ray van Zeschau
„Anarchie Déco“ und „Anarchie Déco 1930“ von J. C. Vogt
Fischer Tor
„Antifaschistische Fantasy“ – so nennen Judith und Christian Vogt ihre „Anarchie Déco“-Dilogie, dessen langersehnter zweiter Band dieses Jahr durch Crowdfunding realisiert werden konnte. Darin entwerfen sie eine alternative queere historische Vergangenheit Berlins. Es ist das Jahr 1927. Ausgerechnet eine Physikerin entdeckt die Magie. Um sie zu wirken, braucht es eine Kombination aus Kunst und Wissenschaft und außerdem einen Mann und eine Frau. Nun streiten Kommunisten, Anarchisten und Nazis, wie diese einzusetzen sei. Nach einem übernatürlichen Mord sucht die maßlos überforderte Polizei die Hilfe der Physikerin.
„Die Vögte“ (Eigenbezeichnung) stellen dabei Fragen wie: Was zählt als Kunst, was als Wissenschaft? Und wie funktioniert Magie mit Menschen, die nicht ganz in die geschlechtliche Dualität passen? Dass Judith Vogt hauptberuflich Autorin und Christian Vogt Physiker ist, ist eine fruchtbare Kombination. So haben sie mit ihren Romanen selbst ein Stück weit Magie geschaffen.
Das in Aachen lebende Duo verbindet in ihren Romanen Fantasy oder Science-Fiction mit Feminismus. Erst kürzlich erhielt Judith Vogt, zusammen mit ihren Herausgeberschafts-Kolleginnen vom „Queer*Welten“ Magazin, den European Science Fiction Society Award für das beste Magazin.
- J. C. Vogt: „Anarchie Déco“, Fischer Tor 2021, 480 S., 20 €
- J. C. Vogt: „Anarchie Déco 1930“, Tredition 2025, 400 S., 20 €
„Der Mechanische Prinz“ von Andreas Steinhöfel
Carlsen
Max glaubt, das traurigste Kind der Welt zu sein. Seine Eltern sind nur am Streiten, interessieren sich nicht für ihn. Er sucht Zuflucht im Berliner U-Bahn-Netz, lässt sich umhertreiben. Irgendwann schenkt ihm ein einarmiger Bettler ein goldenes Ticket. Mit diesem kann in eine besondere U-Bahn steigen, die ihn in eine phantastische Parallelwelt bringt. Dort trifft er den Mechanischen Prinzen, der Max die Aufgabe gibt, sein eigenes Herz zu retten.
Der vielfach ausgezeichnete Jugendbuchautor Andreas Steinhöfel aus Mittelhessen, der auch 20 Jahre lang in Berlin gewohnt hat, erzählt eine berührende Geschichte über Selbstfindung, die sich über phantastische Metaphern und Anspielungen entfaltet. „Der Mechanische Prinz“ ist nicht nur etwas für Kinder, die die Hinweise zum Zauberer von Oz und Peter Pan vermutlich gar nicht mehr verstehen würden, sondern, dank seiner Komplexität und seinem Charme auch eine große Empfehlung für Erwachsene. Besonders Literaturwissenschaftler:innen erleben bei all den intertextuellen Referenzen vermutlich ein fröhliches Herzrasen.
- Andreas Steinhöfel: „Der Mechanische Prinz“, Carlsen 2003, 272 S., 7,99 €
„Neurobiest“ von Aiki Mira
Eridanus Verlag
Abgefahrener als in den Sci-Fi Sub-Genres Cyber-Punk und Bio-Punk wird es nicht. Und damit sind wir bei Aiki Mira, der dreifachen Gewinner:in des Kurd-Laßwitz-Preises für den besten deutschsprachigen Science-Fiction-Roman. In dem 2023 erschienenen Roman „Neurobiest“ vertieft sich Mira in das Verhältnis von Natur und Technologie. Die Handlung spielt im fernen Jahr 2100. Die Dächer der Hauptstadt wurden besetzt, bebaut, bepflanzt. ID-lose und Ausgestoßene haben eine zweite, grünere Stadt über der ersten errichtet – und sogar ganze Wälder gepflanzt. Dank dem ISynBi (Institut für Synthetische Biologie), aber auch Amateur-Bio-Hacker:innen, sind alle Menschen, die dort leben, modifiziert. Und auch an der Tierwelt wurde wild experimentiert. Aiki Miras Bio-Punk-Version der künftigen Hauptstadt ist höchst skurril, selbstverständlich queer – und brillant.
- Aiki Mira: „Neurobiest“, Eridanus 2023, 333 S., 16 €
„Gras“ von Bernhard Kegel
Dörlemann
Auf dem Bundesplatz wächst Gras. So weit, so unspektakulär. Doch rasend schnell durchbricht es den Asphalt, legt erst Berlins Infrastruktur lahm und übernimmt schließlich die ganze Stadt. Dass der Berliner Schriftsteller Bernhard Kegel auch promovierter Biologe ist, zeigt sich in seiner bezwingend kleinteilig und realistisch konstruierten Dystopie. Nach diesem Roman betrachtet man Berliner Straßengewächse etwas genauer – und argwöhnischer.
- Bernhard Kegel: „Gras“, Dörlemann 2024, 381 S., 25 €
„Berlin Monster“ von Kim Rabe
Bastei Lübbe
Mit viel Humor führt Privatdetektivin Lucy die Leser:innen durch ein verrücktes Berlin. Vor 30 Jahren ist im Norden der Stadt eine Bombe explodiert, die eine Strahlung zu Folge hat – und damit Fantasie-Geschöpfe, die zuvor nur in den Köpfen der Berliner:innen existierten, zum Leben erweckt hat. Jetzt sitzen Kobolde am Tresen von Neuköllner Kneipen, tanzen Feen durch die Club-Szene, treibt sich ein Werwolf herum. Und Lucy bekommt es mit mehreren Todesfällen zu tun.
Das ist der 2021 erschienene Fantasy-Krimi „Berlin Monster. Nachts sind alle Mörder grau“ der in Nürnberg lebenden Wissenschaftsjournalistin Kim Rabe. Leider ist das Buch nur noch aus zweiter Hand oder als e-book erhältlich. Doch auch der zweite Teil „Berlin Monster. Ein Dieb kommt selten allein“ hat eine spannende Geschichte zu bieten: Das Pergamon Museum beschuldigt Lucy des Diebstahls magischer Artefakte. Jetzt ist sie gezwungen, während sie vor der Polizei flieht, die wahren Diebe aufzudecken.
- Kim Rabe: „Berlin Monster. Nachts sind alle Mörder grau“, Bastei Lübbe 2021, 413 S., e-book 9,99 €
- Kim Rabe: „Berlin Monster. Ein Dieb kommt selten allein“, Bastei Lübbe 2022, 432 S., 15 €
„Metropolia – Berlin 2099“
Splitter
Am Ende des 21. Jahrhunderts ist Transport zum Luxusgut geworden. Als inzwischen größte Metropole Europas ist Berlin zur Stadt der Fußgänger:innen geworden. Ein persönlicher Schrittzähler lädt das Meilenkonto der Berliner:innen auf. Diese sind zu einer neuen Währung geworden, eine Prämie der Regierung, um zum Laufen zu animieren. Auf begrünten Straßen zwischen Androiden und KIs muss Privatermittler Sasha einen Mord aufklären.
Wem die Deutsche Bahn jetzt schon zu teuer ist, wird sich in „Metropolia. Berlin 2099“ von Fred Duval und Ingo Römling gehört fühlen. Diese ungewöhnliche Idee, die an den skurrilen Film „Time“ mit Justin Timberlake erinnert, in dem die Menschen mit ihrer Lebenszeit handeln und bezahlen, ist ein wunderbarer Grundstein, um ein grünes lebendiges Berlin zu zeichnen. Die Geschichte um den Mord ist fast von der Frage überschattet, die einen beim Lesen unweigerlich überkommt: Würde man hier leben wollen oder besser nicht?
- Fred Duval, Ingo Römling: „Metropolia. Berlin 2099“, Splitter 2025, 56 S., 18 €
„Wolfszone“ von Christian Endres
Heyne
Der bei Würzburg lebende Christian Endres siedelt seinen Roman in einem Brandenburg der Zukunft an. Weil die Mülldeponien in Asien und Afrika voll sind, entsorgt eine Firma illegalerweise ihren Labormüll in einem Brandenburger Wald. Es kommt, wie es kommen muss: KI-gesteuerte Nanobots übernehmen die Kontrolle über die heimischen Wölfe und lassen diese zu erschreckenden Kampfmaschinen mutieren.
Rasant geht es in dieser Geschichte rund um einen Berliner Privatdetektiv zu. Die Grenzen zwischen Natur und Technik werden hier gnadenlos eingerissen, wenn zwischendurch aus der Perspektive eines der durch KI veränderten Wolf-Cyborgs geschrieben wird. Spannender geht’s kaum.
Der Autor, der auch schon für den tipBerlin Literaturkritiken geschrieben hat, gewann kürzlich den Kurd-Laßwitz-Preis für die beste Science-Fiction-Kurzgeschichte.
- Christian Endres: „Wolfszone“, Heyne 2024, 510 S., 20 €
„Hinter den Mauern der Ozean“ von Anne Reinecke
Diogenes
Berlin ist wieder von einer Mauer umschlossen. Doch diesmal ist sie gigantisch hoch. Dort, wo einst die Ringbahn fuhr, ragt sie gen Himmel. Hinter ihr soll ein weiter Ozean liegen. Aber von keinem Gebäude der Stadt schaut man über sie hinweg. Was vorher geschah: Kriege, Klimakatastrophe, die große Flut. Jetzt ist Berlin fast menschenleer. Nur die fünf „Ewigen“ leben hier und geben „Fremden” von außerhalb Führungen. Die Schleuse am Gesundbrunnen ist der einzige Zugang zur Stadt.
„Hinter den Mauern der Ozean“, 2024 erschienen, heißt der Roman der Berliner Schriftstellerin Anne Reinecke, der dieses dystopische Stadtbild entwirft. In dieser nicht näher definierten Zukunft liegt die Spannung im Nicht-Gesagten. Reineckes kunstvolle, aber mysteriöse Sprache lässt viele Interpretationen zu. Es bleibt sogar offen, ob die Ewigen, die auf das „antike Berlin“ zurückblicken, überhaupt Menschen sind.
- Anne Reinecke: „Hinter den Mauern der Ozean“, Diogenes 2024, 235 S., 18 €
Mehr Literatur aus Berlin
Integrationsbeauftragte von Neukölln Güner Balci über ihr Buch „Heimatland“. Ein Schmerzschöner Sommerroman: Kat Eryn Rubik spricht über „Furie“. Erstmals geht der Deutsche Sachbuchpreis an einen Comic: für die Berliner Zeichnerin Uli Lust. Die Romantik des Kampfsports: Helene Hegemann über ihren neuen Roman „Striker“. Musikkultur als Bildband: Sven Väth zeigt vier Jahrzehnte Technokultur. Ein Familienroman mit viel deutscher Geschichte über den Stalinallee-Architekten: Florentine Anders spricht über ihren Roman „Die Allee“. Noch mehr Lesestoff gefällig? Sehr schöne Buchhandlungen in Berlin empfehlen wir euch hier.