Sie reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur, die Häuser und Villen in der kaum befahrenen schmalen Straße in Stuttgart-Schönberg, sie liegen alle auf einer leichten Anhöhe, sie alle haben einen Blick auf viel Waldgrün. Premiumlage, beneidenswert ruhig. Einige der Bauten sind neu und weiß, lang gestreckte Flachdachvillen, einige sind Jahrzehnte alt, schlichte Häuschen mit Satteldach.

Und dann macht die Straße eine leichte Biegung, man sieht eine Doppelgarage, ein blau gestrichenes Gartentürchen und einen einfachen Zaun aus horizontal angeordneten Holzlatten. Das Haus sieht man nicht. Nur die Überwachungskameras auf dem Grundstück verraten, dass dies eine besondere Adresse sein könnte.

1974 entstand die Villa des Mercedes-Chefs in Stuttgart

Fünfzig Jahre lang, von 1974 bis Ende 2024, lebte dort einer der mächtigsten Wirtschaftslenker, auch im Wortsinn. Der Mann bestimmte über Jahre hinweg die Geschicke einer berühmten Automarke. Edzard Reuter war von 1987 bis 1995 Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG. „Reuter war alles andere als ein stromlinienförmiger Automann. Er war ein unkonventioneller Kopf, der sich nicht scheute, öffentlich Meinungen zu vertreten, die in Wirtschaftskreisen damals ungewöhnlich und unbequem waren“, schrieb Harry Pretzlaff, Autor unserer Zeitung, in seinem Nachruf auf Reuter.

Der 1928 in Berlin geborene Manager und seine Frau Helga hatten in der Stuttgarter Villa bis zu ihrem Tod – beide starben nur wenige Wochen nacheinander im Jahr 2024 – ihr Refugium. Auf den Klingelknopf zu drücken ist nicht nötig, die Immobilienmakler Kerstin Schmid und Oliver Nieft sind schon da.

Und auch die ehemalige Baden-Württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann, sie ist seit 2023 Kuratoriumsvorsitzende der Helga und Edzard Reuter-Stiftung. Im Mai wurden Werke der Kunstsammlung für 7,5 Millionen Euro bei Christie’s in Paris versteigert. Weitere Auktionen folgten und folgen, berichtet Susanne Eisenmann. Es wurden schon Schmuck und Möbel abgeholt und (bei Nagel Auktionen) versteigert. Jetzt wird das Haus selbst verkauft.

Das Geld geht an die Stiftung von Helga und Edzard Reuter Stiftungsgründer Helga und Edzard Reuter, beide starben im Jahr 2024. Foto: Elke A. Jung-Wolff/Helga und Edzard Reuter-Stiftung

Der Erlös geht an die Stiftung der Reuters. Wer die veranschlagten knapp zwei Millionen Euro für Haus mit Garten bezahlen wird, tut ein Werk für die Völkerverständigung, die sich die Stiftung auf die Satzungsfahnen geschrieben hat, die jährlich eine Million Euro für gute Projekte ausgeben und alle zwei Jahre einen Preis an engagierte Persönlichkeiten und Initiativen verleihen kann. Und er oder sie wird künftig in einem berühmten Haus leben.

Einige Stufen führen hinauf zur Villa, die auch schon jede Menge hoher Besuch aus Politik und Wirtschaft über die Jahrzehnte hinweg hinaufgestiegen ist. Die ehemalige Ministerin Susanne Eisenmann etwa war selbstredend früher schon da, sie ist zudem der Stiftung seit Jahren verbunden. Rechterhand liegt, mit blauer Plane abgedeckt, ein Swimmingpool, umgeben von Bäumen, Büschen, blühenden Blumen. Ein Idyll, das zum kantigen, aber nicht wuchtig wirkenden Betonbau einen aparten Kontrast bildet.

Der Eingang und wie sich zeigen wird auch die verbliebenen Einbauten atmen den freien, fröhlichen und fortschrittsoptimistischen Geist der 70er Jahre, und eine Art von schwäbisch zurückhaltender, doch qualitätsbewusster Kulturbürgerschaft, vom Berliner Edzard Reuter bis zur Perfektion verinnerlicht. Eine Villa mit 226 Quadratmeter Wohnfläche auf einem 1000 Quadratmeter großen Grundstück ist prächtig, aber nicht protzig.

„Edzard Reuter“, sagt Susanne Eisenmann, „war mit dem Herzen ein Schönberger. Er war Mitglied im Bürgerverein, ging nach Sillenbuch zum Einkaufen.“ Ihre Mitbringsel stellten sie dann vielleicht erst einmal links an der Garderobe ab, bevor sie sie hinauf in die Küche trugen. Die Einbauten sind noch da, auch die verspiegelte Wand, die das eher dunkle Entree etwas erhellt, denn wenn die Schiebetür zum Wohnzimmer geöffnet ist, fällt bis dorthin das Licht ein und wirft es zurück.

Viel Beton in der Villa und ein Blick ins Grüne

So sind die Besucher auch an diesem Nachmittag von einer hellen freundlichen Atmosphäre umgeben. Und das obwohl leer geräumte Häuser doch oft trist wirken. Also, praktische terrakottafarbene Fliesen am Boden, dezente Deckenstrahler und unverputzte Betonwände, eine Schiebetür öffnet sich und gibt den Blick frei auf einen großen hellen Raum mit Betondecke, weißen Einbauschränken und bodentiefen Fenstern, die sich zum Grün hin öffnen. In den vergangenen Jahren schloss sich ein weiterer Raum an mit kleiner Küche, Bad und Sauna-Zugang, für die Pflegerin, die das Ehepaar im Alltag unterstützte.

Eine Betontreppe führt hinauf in die eindrucksvolle Beletage samt offenem Ess- und Wohnbereich, damals schon offen konzipiert, ganz so wie es heute Menschen bei Neubauobjekten und Umbauten wünschen. Der Raum, in dem die Kunstsammlung ihr Zuhause hatte, öffnet und weitet sich nach oben hin zu einem imposanten Luftraum.

Ein Raum – gemacht wie für einen Bond-Film

Der Blick geht hinauf zu einer Art von bauchiger Kanzel mit Schiebefenstern. „Es hat etwas von einem Raumschiff, schwebend über den Räumen“, sagt Kerstin Schmid. Die Atmosphäre wirkt futuristisch; als noch Roger Moore den Geheimagenten James Bond spielte, hätte der Raum sich gut für eine Partyszene in einem Bond-Film gemacht, Damen mit Kurzhaarfrisur, auffälligen Ohrringen und großblumig gemusterten Minikleidern, Herren mit Schlaghosen und breiten Koteletten zur Hornbrille.

Und hinten in der Küche rührt jemand einen giftigen Cocktail an. Die nach hinten gelegene dank eines Fensterbandes helle Küche mit den schnörkellosen Einbauten überrascht mit mutiger Farbwahl: orangefarbene Fronten, dazu kleine kreisrunde braune Fliesenspiegel unter der Betondecke mit Schiene für Leuchten. Alles hervorragend in Schuss, aber nicht, weil man sich das Essen hatte liefern lassen. „Zur Büchersammlung gehörten auch zwei umfangreiche Kochbücher von Helga Reuter mit vielen handschriftlich eingetragenen Rezepten“, sagt Susanne Eisenmann.

Orangefarbene Küche

Das Küchenensemble könnte, sofern die Neuen eine neue Küche wünschen, direkt in ein Museum für Alltagskultur der späten 70er transportiert werden. Abzüglich der neuwertigen Elektrogeräte natürlich. Auch der Hundewassernapf neben der Glastür (man kann die Küche und den danebenliegenden Hauswirtschaftsraum auch vom Garten aus betreten) ist eher aus jüngerer Zeit. „Die Reuters“, erklärt Susanne Eisenmann, „hatten eine Haushälterin und diese hatte einen Hund namens Charly, den sie oft mitbrachte und den die Reuters sehr mochten.“

Die runden Mosaikfliesen übrigens finden sich auch ein Stockwerk weiter oben wieder, wo neben der Treppe Platz für einen lustigen Pflanzen-Einbau ist und wo sich neben den Rückzugsräumen das Badezimmer mit besagten Fliesen nebst Doppelwaschbecken und Badewanne befindet (blaue Türknaufe und Griffe da und dort im Haus waren das Maximum an Extravaganz, das sich die Reuters leisteten).

Ein Haus für Architekturfans

Dass das nicht unter Denkmalschutz stehende Haus vom Käufer abgerissen und einem Neubau weichen könnte, liegt im Bereich des Möglichen, ist aber angesichts des Charmes dieser Räume höchst unwahrscheinlich. „Die Substanz des Hauses ist wirklich gut“, sagt Kerstin Schmid. Und die mögliche Käuferschicht? „Bisher wird das Haus“, sagt Oliver Nieft, „ausgewählten Kunden von E&G Immobilien vorgestellt.“ Interessant sei das Haus , so vermutet Kerstin Schmid, „sicher vor allem für Menschen, die das Besondere lieben, für Menschen mit Sinn für Kunst und Architektur.“

Von Fröhlichkeit durchweht ist der Raum in der Beletage mit dem Kamin und mit der großen Terrasse, von der eine Treppe in den Garten führt. Die Regalschienen der großen Bücherwand sind abmontiert, die Möbel abtransportiert worden, die Kunstwerke, für die das Haus auch gebaut worden war, sind ebenfalls längst von der nackten Betonwand abgenommen.

Mich hat das beeindruckt“, sagt Susanne Eisenmann, „Edzard Reuter hat sehr klar geregelt, was mit dem Besitz passieren soll. Er hat sogar das Gedicht ausgesucht, das bei der Trauerfeier gesprochen werden sollte“. Die Kunst wird in alle Welt hinaus neue Kunstfreude schaffen, die Möbel werde neue Besitzer finden. Und nur noch ein Weilchen, bis sich eine Käuferin, ein Käufer gefunden haben wird, zeugen einige kreisrunde Vertiefungen im beigefarbenen Teppichboden noch davon, dass hier bis vor kurzem vielleicht nicht mehr getanzt, aber intensiv gelebt wurde.

Info

Edzard Reuter
war von 1987 bis 1995 Vorsitzender des Vorstands der Daimler-Benz AG. Unter ihm wurde die neue Zentrale in Stuttgart gebaut. Reuter, Jahrgang 1928, starb am 24. Oktober 2024 96-jährig in Stuttgart, seine Frau Helga starb kurze Zeit später 87-jährig am 17. November 2024. Er ist der Sohn des legendären Berliner Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ging die Familie Reuter ins Exil nach Ankara. Edzard Reuter verbrachte seine Kindheit von 1935 bis 1946 in der Türkei. Ab 1946 war er Mitglied der SPD. Sein Grab befindet sich in Berlin, unweit des Grabes von SPD-Politiker Willy Brandt.

Stiftung
Die 1995 gegründete gemeinnützige Helga und Edzard Reuter-Stiftung setzt sich für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer, religiöser oder kultureller Herkunft ein, widmet sich dem internationalen Dialog und der Völkerverständigung. Alle zwei Jahre wird ein Preis vergeben.